Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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tehr in hohem Maß zugenommen hat; der Hand- 
werker, welcher der Großindustrie gegenüber sich 
behaupten will, muß mehr oder weniger kauf- 
männisch gebildet sein. Der Bauer muß heute 
unbedingt lesen, schreiben und rechnen können. 
In der Industrie und selbst in der Landwirtschaft 
werden immer mehr Arbeiter mit Schulbildung 
verlangt. Dabei kommt dann besonders in Be- 
tracht, daß für die allermeisten Menschen es heute 
in der Jugend nicht im geringsten feststeht, ob sie 
im späteren Leben der elementaren Schulkenntnisse 
bedürfen werden oder nicht. Unter den heutigen 
Verhältnissen ist auch für die Massen der Arbeiter 
eine angemessene Schulbildung unentbehrlich, weil 
die Organisation derselben notwendig ist, damit 
sie an den Vorteilen, welche die Maschine und die 
Arbeitsteilung sowie die damit in engster Ver- 
bindung stehende Erweiterung des Verkehrs der 
ganzen Gesellschaft bringen oder wenigstens bringen 
können, gerechten Anteil gewinnen und nicht gar 
Schaden dadurch erleiden. Der Arbeiter, dessen 
Tätigkeit durch die rechtlichen oder tatsächlichen 
Verhältnisse an die Scholle gebunden war, brauchte 
für seine wirtschaftliche und soziale Stellung nur 
geringe Schulbildung, der freie bedarf ihrer um 
so mehr zur Gewinnung oder Erhaltung einer 
ihm nach dem heutigen Stand der Kultur gebüh- 
renden wirtschaftlichen und sozialen Stellung. 
Entspricht die Schulbildung des Volks dessen 
wirtschaftlicher Lage, so wird sie an und für sich 
keine Unzufriedenheit hervorrufen. Wenn dagegen 
die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der 
Schulbildung nicht entsprechen, aber denselben ent- 
sprechend geändert werden können, dann ist die 
Unzufriedenheit, welche durch die Schulbildung 
hervorgerufen wird, kein Übel, sondern ein Vor- 
teil. Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse schädigen 
durchgehends auch die Religion und die Sittlich- 
keit, und die Unzufriedenheit mit solchen Verhält- 
nissen ist eine Pflicht. 
Die heutigen Zeitumstände verlangen auch eine 
Teilnahme der Masse des Volks an der Gesetz- 
gebung und Verwaltung. Dazu bedürfen die 
Staatsbürger aber wenigstens der elementaren 
Kenntnisse des Lesens und Schreibens; desgleichen 
setzt die soziale Gesetzgebung selbst bei den unteren 
Volksklassen die Kenntnis voraus. Der einzelne 
Mensch könnte allerdings ohne die Kenntnis des 
Lesens und Schreibens seinen religiös-sittlichen 
Pflichten nachkommen, aber eine volle Entfaltung 
der religiösen und sittlichen Anlage der Mensch- 
heit, wie unsere Kulturverhältnisse sie ermöglichen 
und zu ihrer Erhaltung fordern, ist nicht zu er- 
reichen, wenn nicht das ganze Volk wenigstens 
lesen und schreiben kann. 
Die Erkenntnis der sittlich-religiösen Wahr- 
heiten wird durch die Fertigkeit des Lesens und 
durch die Ubung der Denkfähigkeit, welche die 
Schule bietet, sehr erleichtert. Auch das durch 
Lesen vermittelte Wissen in weltlichen Dingen ge- 
währt reiche Mittel zum Verständnis jener Wahr- 
  
Unterrichtswesen. 
  
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heiten und gibt Stützpunkte und Beweggründe zu 
einem moralischen Leben. Schon das Ehrgefühl 
und Selbstbewußtsein, welches die Elementar- 
bildung gewährt, ist ein wichtiges Mittel zur Sitt- 
lichkeit, wenn es nicht überspannt ist. Die Anfor- 
derungen an die Sittlichkeit werden zudem nach 
den veränderten Zeitverhältnissen andere. Der 
Gelegenheiten zur Unredlichkeit z. B. gibt es heute 
viel mehr als früher, deshalb muß die Fähigkeit, 
dieselben zu erkennen, mehr als früher geweckt 
werden. Man darf also sagen, daß für jeden ein- 
zelnen Menschen in unsern heutigen Kulturverhält- 
nissen die Kenntnis mindestens der ersten Ele- 
mente des Wissens unbedingt notwendig ist. 
Noch von einem andern Standpunkt aus ergibt 
sich für den Staat das Recht des Lernzwangs. 
Der Staat ist eine von Gott gewollte Institution, 
welche die Wohlfahrt der Bewohner fördern 
und besonders den Schwachen den wirtschaftlichen 
Kampf um das Dasein erleichtern soll. Der Staat 
kann aber unter den heutigen Verhältnissen diesem 
seinem Zweck nicht nachkommen, wenn nicht die 
Masse des Volks wenigstens eine elementare Bil- 
dung bat. Da aber der Staat die Mittel ge- 
brauchen darf und muß, welche zur Erfüllung 
seines Zwecks notwendig sind, so folgt daraus 
auch, daß er bei den heutigen Verhältnissen den 
Lernzwang einführen darf, ja muß. Dieser Grund 
ist für den modernen Staat um so maßgebender, 
weil er infolge des Lernzwangs sehr intelligente 
Bürger erhält, auf denen zum Teil sein Ansehen 
und seine Macht unter den Kulturstaaten beruht. 
Einen deutlichen Beweis hiervon geben die Be- 
mühungen Frankreichs nach dem Krieg mit 
Deutschland. 
Der Lernzwang legt allen Eltern die Pflicht 
auf, ihren Kindern gewisse Kenntnisse und Fertig- 
keiten zu verschaffen. Die Art und Weise, wie sie 
dies tun wollen, bleibt ihnen überlassen, da sie als 
nächste und unmittelbare Erzieher ihrer Kinder 
für den nötigen Unterricht zu sorgen haben. Je- 
doch kann die Staatsgewalt sich vorbehalten, die 
Kinder einer Prüfung zu unterziehen, ob sie die 
gesetzlich vorgeschriebenen Kenntnisse sich angeeignet 
haben. Für solche Eltern, die nicht imstande sind, 
ihre Kinder zu unterweisen oder durch eigne Lehrer 
unterrichten zu lassen, ergibt sich daraus ein in- 
direkter Schulzwang. Sie müssen die Kinder 
in eine Schule schicken, damit sie daselbst die er- 
forderlichen Kenntnisse sich aneignen. Für solche 
Schulen zu sorgen, ist unter Umständen Pflicht 
des Staats. 
Das Maß der Kenntnisse, das der Staat durch 
den Lernzwang herbeiführen darf und soll, hängt 
naturgemäß von den bestehenden Verhältnissen ab. 
Mehr Kenntnisse, als im allgemeinen erforderlich 
sind, darf der Staat nicht erzwingen. Die Fest- 
setzung dieses Maßes an Kenntnissen sollte, da es 
von den verschiedensten Verhältnissen bedingt ist, 
nicht von einer staatlichen Zentralinstanz allein 
vorgenommen werden, sondern die Eltern und die
	        
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