Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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staatlich oder beruflich organisierte Gesellschaft 
sollten an der Festsetzung des Maßes der Kennt- 
nisse, der Dauer der Schulzeit, des Anfangs und 
des Endes derselben teilnehmen. Ebenso sollte es 
sein mit den Bestimmungen über die Ferien, die 
Dispensationen vom Unterricht, die Strafen wegen 
der Schulversäumnisse usw. Die notwendige Rück- 
sicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern 
wie der Kinder kann und wird sich dann geltend 
machen. 
Wenn der Staat einen Lernzwang nur an- 
wenden darf, soweit das Lernen des einzelnen 
Kindes für dieses selbst und für die ganze Gesell- 
schaft notwendig ist, so muß er zugleich, wo die 
einzelnen, die Berufsorganisationen und die Ge- 
meinden nicht imstande sind, Volksschulen mit 
weiter gehenden Zielen zu gründen, welche für die 
ganze Gesellschaft erforderlich sind, ohne daß jedes 
Kind diese weiteren Ziele erreicht, diese errichten 
und erhalten bzw. unterstützen. 
Aus dem Lernzwang folgt noch nicht der 
Schulzwang, d. h. die den Eltern gesetzlich 
auferlegte Pflicht, ihre Kinder für eine bestimmte 
Zeit in eine Schule zu schicken. In der Theorie 
ist derselbe auch wohl kaum in einem Staat voll- 
ständig durchgeführt. Vielmehr steht in den meisten 
Ländern den Eltern die Wahl frei, entweder die 
Kinder in die öffentlichen Schulen zu schicken oder 
ihnen in andern Lehranstalten oder zu Hause in 
gleichem Umfang Unterricht erteilen zu lassen. 
Doch ist diese Freiheit in der Praxis für den 
größten Teil der Bewohner ohne Bedeutung, weil 
die meisten Eltern schon aus Mangel an Mitteln 
ihre Kinder in die am Wohnort bestehende staat- 
liche Schule schicken müssen. Deshalb hat der 
Staat um so mehr die Verpflichtung, die Schulen 
so einzurichten, daß die Eltern imstande sind, ihre 
Kinder ohne berechtigte Gewissensbedenken in diese 
zu schicken. Solche Bedenken müßten eintreten, 
sobald die religiös-sittliche Erziehung in der Schule 
den religiösen Anschauungen der Eltern wider- 
spräche. Schon aus diesem Grund muß es ge- 
stattet sein, neben den staatlichen Schulen andere, 
„freie“, zu gründen und die Kinder diesen Schulen 
zu übergeben. 
Im allgemeinen ist auch die Errichtung von 
Unterrichtswesen. 
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ausländischen Unterrichtsanstalten kann der Staat 
keine Einwendungen erheben, wenn dort das hei- 
mische Ziel, namentlich auch in Bezug auf die 
vaterländische Gesinnung, erreicht wird. Indes 
nimmt der höchste preußische Gerichtshof jetzt fol- 
genden Standpunkt ein: Im Hinblick auf die 
Kabinettsorder vom 14. Mai 1825, welche be- 
sonders für Rheinland ergangen ist, und auf das 
Allgemeine Landrecht ist anzunehmen, daß die 
schulpflichtigen Kinder ihren Unterricht in der 
Regel an einer inländischen Schule erhalten 
sollen; denn der Schulinspektor könne nur dann 
Entscheidung darüber treffen, ob ein Kind die er- 
forderlichen Kenntnisse besitzt, wenn es eine in- 
ländische Schule besuche. Die öffentlich-rechtlichen 
Bestimmungen über die Schulpflicht seien keines- 
wegs durch § 1631 des B.G. B. beseitigt, wonach 
dem Inhaber der elterlichen Gewalt das Recht zu- 
steht, das Kind zu erziehen und seinen Aufenthalt 
zu bestimmen. Früher hatte das Kammergericht 
angenommen, § 1631 gebe dem Vater das Recht, 
unumschränkt über den Aufenthalt des Kindes zu 
verfügen. 
Noch mehr als durch den direkten Schulzwang 
überschreitet der Staat seine Grenzen durch das 
Schulmonopol. Im engeren Sinn be- 
deutet dasselbe die vollständige Ausschließung jeder 
privaten Tätigkeit vom Gebiet der Schule. Wo 
dieses staatliche Schulmonopol eingeführt ist, darf 
nur der Staat Schulen errichten und durch seine 
Beamten leiten. Ein staatliches Schulmonopol 
im weiteren Sinn besteht aber, wenn zwar 
Privatschulen zugelassen werden, aber nur nach 
staatlicher Genehmigung und unter staatlicher 
Leitung. Ein solches Monopol ist ein Eingriff in 
das Erziehungsrecht der Eltern und beschränkt 
die Lehr= und Lernfreiheit. Allen Mißständen, 
welche einreißen könnten, wenn uneingeschränkte 
Freiheit in der Gründung von Schulen waltete, 
könnte dadurch vorgebeugt werden, daß von allen 
Lehrern, welche in einer Schule unterrichten woll- 
ten, der Nachweis der Befähigung hierzu gefordert 
würde. Ganz dieser Auffassung entsprechend be- 
stimmte daher die preußische Verfassungsurkunde 
vom 31. Jan. 1850: „AUnterricht zu erteilen und 
1 Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten, steht 
  
  
Unterrichtsanstalten freigestellt. Ersordert wird jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche 
dafür nur die wissenschaftliche und moralische Be= und technische Befähigung den betreffenden Stoats- 
fähigung, von welcher der Staat sich auf Grund behürden nachgewiesen hat“ (Art. 22). Da Art. 26 
von Zeugnissen Kenntnis verschafft. In England, ein Unterrichtsgesetz in Aussicht stellt und Art. 112 
Nordamerika und Belgien ist das Recht zur Grün- ausdrücklich bestimmt, daß es bis zu dessen Erlaß 
dung von Unterrichtsanstalten uneingeschränkt für bei dem bisherigen Recht zu bewenden habe. so 
Geistliche und Laien. In Preußen und dem trat auch der angeführte Art. 22 nicht in Kraft. 
übrigen Deutschland ist es von der besondern Ge-Sobald aber das längst in Aussicht gestellte 
nehmigung der Regierung abhängig. Auch sind Schulgesetz endlich in Angriff genommen wird, 
verschiedene religiöse Orden vom Unterricht aus= wird diese Bestimmung der preußischen Verfassung 
geschlossen. Der Staat läßt in den Privatanstalten in der Frage des Schulmonopols maßgebend sein 
von Zeit zu Zeit durch seine Vertreter Prüfungen müssen. Jetzt gelten für Preußen die Bestim- 
vornehmen, um sich zu versichern, daß das all- mungen des Allgemeinen Landrechts: Wer eine 
gemeine Unterrichtsziel erreicht wird. Auch gegen Privaterziehungs- oder sog. Pensionsanstalt er- 
die Unterbringung von schulpflichtigen Kindern in richten will, muß bei der Ortsschulbehörde seine
	        
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