Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

647 
gelehrten Berufe verlangt, gewährt aber auch die 
Mittel, um mehr höhere Schulen zu errichten und 
den gelehrten Berufen lohnende Beschäftigung zu 
gewähren. Die Ursache liegt in der steigenden 
Produktionskraft infolge der Arbeitsteilung und 
der Maschinen. Wenn auch die Lebenshaltung der 
Menschen im Verbrauch der wirtschaftlichen Güter 
infolge der steigenden Produktionskraft des ein- 
zelnen steigen kann und muß, so kann und muß 
doch auch die größere Produktionskraft verwandt 
werden, um einen wachsenden Prozentsatz der 
Menschen aus der Produktion materieller Güter 
herauszunehmen und der geistigen Tätigkeit zu- 
zuführen. Die Vertreter der gelehrten Berufe und 
die Schulen, welche für diese vorbereiten, müssen 
sich also schneller vermehren als die Bevölkerung. 
Andernfalls tritt entweder große Arbeitslosigkeit 
infolge zu vieler materieller Produkte oder ein 
Versinken im materiellen Lebensgenuß ein. Die 
immer wiederholten Klagen, daß der Zudrang zu 
den gelehrten Berufen, zu den höheren Schulen 
über die Bevölkerungszunahme hinausgehe, sind 
unbegründet, solange nicht der Zudrang zu sehr 
über das Wachstum der Bevölkerung und zugleich 
über die steigende Produktionskraft hinausgeht. 
Dies findet gewöhnlich dann statt, wenn längere 
Zeit hindurch der Zudrang zu den gelehrten Be- 
rufen und den höheren Schulen nicht groß genug 
war. Ein langsam, aber stetig wachsender Zu- 
drang zu den gelehrten Berufen, welcher über die 
Volksvermehrung hinausgehl, muß angestrebt wer- 
den. Jedoch ist in dem letzten Jahrzehnt der Zu- 
drang zu den gelehrten Berufen derart gewesen, 
daß fast auf allen Gebieten Uberfluß herrscht. 
Das gelehrte Berufsstudium findet in der 
Regel auf den Universitäten (s. d. Art.) und andern 
Hochschulen statt. Diese Schulen haben die Auf- 
gabe, die Wissenschaft (und Kunst) weiter zu führen 
und die Vertreter der einzelnen gelehrten Berufe 
in ihrer Fachwissenschaft auszubilden. Die 
Schulen, welche für die Hochschulen vorbereiten, wer- 
den ganz allgemein höhere Schulen, in Süd- 
deutschland und Osterreich auch Mittelschulen 
genannt (in Norddeutschland versteht man unter 
Mittelschulen eine zwischen der Volksschule und 
den höheren Schulen stehende Schulgattung, der 
in Preußen durch Ministerialerlaß vom 3. Febr. 
1910 eine einheitlichere Organisation gegeben 
wurde). Diese höheren Schulen haben einmal den 
Zweck, ihre Schüler fähig zu machen, sich dem ge- 
lehrten Berufsstudium mit Erfolg zu widmen; 
zugleich ist es aber auch vornehmlich ihre Auf- 
gabe, die höheren Kulturgüter, die in jedem Volk 
durch selbständiges Erarbeiten oder durch Auf- 
nahme von außen her gewonnen sind, an die fol- 
gende Generation weiter zu geben. Im allgemei- 
nen müssen deshalb die Schulen, welche der Vor- 
bereitung für das gelehrte Berufsstudium dienen, 
von dem geschichtlichen Boden ausgehen, auf dem 
unsere Kultur erwachsen ist. Dieser wird jedoch 
mit der Zeit immer größer; zu dem griechischen 
Unterrichtswesen. 
  
648 
und römischen Altertum sowie dem Christentum 
sind die französische und englische Literatur und 
Kultur und zuletzt namentlich die Naturwissen- 
schaften als mächtige Kulturfaktoren hinzugetreten, 
deren Wirksamkeit schon in hohem Maß der Ge- 
schichte angehört. Infolge des immer erbitterter 
werdenden Kampfs zwischen diesen heterogenen 
Bildungselementen, besonders zwischen dem alten 
humanistischen Bildungsideal, dessen Endziel der 
Gelehrte ist, und dem mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen der modernen Zeit, die gebildete und 
weltgewandte Bürger haben will, kam es 1882 in 
Preußen und seitdem auch in den meisten andern 
Bundesstaaten Deutschlands zu einer Dreiteilung 
der höheren Schulen in 1) Gymnasien (un- 
vollständige Form: die sechs= oder siebenstufigen 
Progymnasien); 2) Realgymnasien (Real- 
progymnasien), deren untere drei Klassen den 
gleichen Lehrplan haben wie das Gymnasium; 
3) Realschulen. Letztere gliedern sich a) in die 
neunstufigen Oberrealschulen (ohne Lateinunter- 
richt), b) in die sechs= oder siebenstufigen Real- 
schulen; c) in die Höheren Bürgerschulen, die in 
Preußen sechsstufig, in Bayern und Baden fünf- 
oder vierstufig sind. Wegen des Zeugnisses für 
den einjährig-freiwilligen Militärdienst nehmen 
alle Realschulen in ihren Lehrplan zwei moderne 
Fremdsprachen auf. 
Mit dieser Neuordnung der Dinge war aber kein 
dauernder Friede geschaffen. Vor allem hatte das 
humanistische Gymnasium die stürmischsten An- 
griffe zu erdulden, nicht immer ohne eigne Schuld 
infolge mancher Einseitigkeit und Weltfremdheit. 
Vielfach aber wurde und wird neben den berech- 
tigten Forderungen der immer fortschreitenden 
Naturwissenschaften und technischen Erfindungen 
der Kampf gegen das humanistische Bildungsideal 
des Gymnasiums entflammt durch den in unserer 
Zeit weit verbreiteten platten Utilitarismus, der 
nur für solche Bildungswerte Verständnis hat, 
die sich unmittelbar in klingende Münze um- 
rechnen lassen. Auch die viel genannte Berliner 
Dezemberkonferenz des Jahrs 1890 brachte den 
Frieden nicht, da sie nur das Gymnasium und 
die Oberrealschule als höhere Schulen gelten ließ, 
ohne indes die Gleichwertigkeit der humanistischen 
und realistischen Vorbildung anzuerkennen. Was 
an praktischen Erfolgen dieser Dezemberkonferenz 
in den neuen Verordnungen vom 1. April 1892 
erzielt wurde, wird man später schwerlich als einen 
Fortschritt in der Entwicklung des Unterrichts- 
wesens anerkennen: es wurden für das Gymnasium 
nämlich die Unterrichtsstunden für Deutsch, Phy- 
sik, Zeichnen und Turnen vermehrt und für Latein 
vermindert. Auch wurden die Bestimmungen für 
die Abgangsprüfungen neu geordnet durch Ein- 
fübrung einer (1901 wieder abgeschafften) sog. 
„Abschlußprüfung“ nach dem sechsten Jahrgang, 
Wegfall des lateinischen Aufsatzes usw. In den 
Jahren 1892/1901 drehte sich der Kampf um die 
Frage des lateinlosen Unterbaues, um die Gleich-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.