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auch seine Besonderheiten, die bei seiner Theilnahme an der
Rechtsbildung nothwendig von Einfluss werden.
Ausser diesen im Wesen der Menschen liegenden Ursachen
der Entwickelung der verschiedenen Rechtsordnungen machen
sich dann auch noch die thatsächlichen Verhältnisse geltend.
Zwar ist gegen die sogenannte organische Staats- und Rechtslehre,
welche annimmt, dass die wirthschaftlichen und sozialen Lebenrs-
beziehungen der Menschen schon ihr Gesetz in sich selbst tragen,
BIERLING® mit der Behauptung aufgetreten, dass vielmehr das
Recht der Grund jeder Lebensgemeinschaft sei. Das ist gewiss
in der Hauptsache richtig, leidet aber doch an einer gewissen
Einseitigkeit der Auffassung oder wenigstens des Ausdrucks.
Wenn auch die Verhältnisse der Menschen zu einander Dauer
und ihre bestimmte Gestalt erst durch die Anerkennung gewisser
sie beherrschender Normen erhalten, so liegen ihnen doch That-
sachen und Bedürfnisse zu Grunde, die unabweislich Berücksich-
tigung fordern. Denn Lebensverhältnisse sind zunächst Thatbe-
stände, an die das Recht seine Wirkungen anknüpft, nicht die
davon verschiedenen, in denen sich jene Wirkungen verkörpern.
Jene ersteren sind aber in ihren Grundzügen meistens so einfach,
dass Meinungsverschiedenheiten über sie nicht möglich sind. Es
wäre doch z. B. selbstverständlich undenkbar, die Beziehungen
zwischen Eltern und Kindern nach denselben Grundsätzen zu
ordnen, wie diejenigen zwischen Mann und Frau. Es steht also
nicht im unbeschränkten Belieben der Menschen, wie sie ihre
Verhältnisse gestalten wollen, sondern sie können sich dabei der
Beachtung der thatsächlichen Zustände nicht entschlagen. Inso-
ferne tragen diese allerdings — wie auch wohl BIERLING ? eigent-
lich nicht leugnen will, da er der neueren staatswissenschaftlichen
Theorie das Zeugniss gibt, dass sie sich auf richtiger Bahn befinde
— schon die Grundzüge der zu bildenden Rechtsverhältnisse in sich.
® Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe I 8. 86 ff.