Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

705 
Vergehen“ bei. Nicht minder sand sich in ent- 
sprechenden Gesetzen anderer deutschen Staaten 
damaliger Zeit, z. B. Osterreichs, diese Ausdrucks- 
weise. Noch in dem § 3 des Wahlgesetzes für den 
norddeutschen Reichstag vom 31. Mai 1869 findet 
sich eine Bestimmung betr. „politische Verbrechen 
und Vergehen“, indem festgesetzt wird, daß die 
Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte wegen 
derartiger strafbarer Handlungen die Berechtigung 
zum Wählen nicht länger hindern solle, als bis 
die deswegen erkannte Strafe vollstreckt oder durch 
Begnadigung erlassen sei. Und endlich ist in dem 
norddeutschen Bundesgesetz vom 21. Juni 1869 
über die Gewährung der Rechtshilfe im § 25 die 
Vorschrift aufgenommen, daß bis zum Erlaß eines 
gemeinsamen Strafgesetzbuchs eine Auslieferung 
(uuch) dann nicht stattfinde, wenn die Handlung 
ein „politisches Verbrechen oder Vergehen“ 
ist. In dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen 
Bund bzw. das Deutsche Reich selbst aber, auf 
welches hingewiesen ist, findet sich dann der Aus- 
druck nicht. Von da ab stößt man überhaupt in 
keinem Gesetz im engeren Sinn mehr auf jenen 
Ausdruck, so daß die einzige zurzeit in Geltung 
befindliche gesetzliche Vorschrift, die ihn enthällt, 
jener § 3 des Wahlgesetzes für den deutschen 
Reichstag ist. Daneben kehrt der Ausdruck noch 
in unsern Auslieferungsverträgen, und zwar fast 
in allen, wieder, in den verschiedensten Wendungen 
und Nuancierungen, als z. B. „politische Ver- 
brechen und Vergehen“, „strafbare Handlungen, 
die einen politischen Charakter an sich tragen“, 
oder „die politischer Natur sind“, oder „die mit 
politischen Verbrechen in Verbindung stehen“, 
oder „durch ihren Zusammenhang mit politischen 
Delikten eine politische Natur annehmen“. Ihret- 
wegen soll eine Auslieferung nicht stattfinden. 
Auch findet sich der Ausdruck in Amnestieerlassen. 
Von den vorgedachten Gesetzen, Verordnungen 
Usw. geben mehrere überhaupt keinen Ausschluß 
darüber, was sie unter „politischen Verbrechen oder 
Vergehen“ bzw. den sonst gebräuchlichen Aus- 
drücken für ihre speziellen Zwecke verstanden wissen 
wollen, geschweige denn, daß sie Anhaltspunkte für 
eine allgemeine Begriffsbestimmung liefern. Aber 
auch die übrigen, die eine Erklärung enthalten, sind 
für den letzteren Zweck nicht verwertbar. So sagt 
zwar der § 2 der erwähnten Verordnung vom 
15. April 1848, daß als politische Vergehen im 
Sinn des § 2 der Verordnung vom 6. April 1848 
zu betrachten seien die im Rheinischen Strafgesetz- 
buch in Buch 3, Tit. 1, Kap. 1. 2, Kap. 3, 
Abschn. 3, § 2 und Abschn. 7 vorgesehenen. Aber 
damit ist nur fixiert, welche politischen Verbrechen 
bzw. Vergehen als solche der Zuständigkeit der 
Schwurgerichte unterstellt sein sollten. Keineswegs 
sollten sie erschöpfend bezeichnet werden. Für eine 
allgemeine Begriffsbestimmung ist damit also nichts 
gewonnen. Ebenso verhält es sich mit der Bestim- 
mung des Art. XIX des Einf. Ges. zum preußi- 
schen Strafgesetzbuch von 1851. In den diesem 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
Verbrechen, 
  
politische. 706 
Artikel voraufgehenden Vorschriften dieses Gesetzes 
ist bestimmt, daß die Verbrechen vor die Schwur- 
gerichte gehören sollten. Dann besagt der Art. XIX, 
daß ingleichen als politische Vergehen die in den 
88 78, 84, 85, 86, 98, 99 des Strafgesetzbuchs 
erwähnten strafbaren Handlungen vor die Schwur- 
gerichte gehören sollten. Hier zeigt es sich noch 
deutlicher, daß von einer erschöpfenden Aufzählung 
der politischen Delikte keine Rede ist. Von den 
politischen Verbrechen ist nämlich überhaupt keine 
Rede; sie bedurften keiner besondern Erwähnung, 
da sie in der allgemeinen Zuständigkeitsbestimmung 
inbegriffen waren. Die Vorschrift hatte vielmehr 
die Bedeutung, eine Ausnahme aufzustellen, in- 
soweit nämlich, als die bezeichneten strafbaren 
Handlungen, obgleich sie keine Verbrechen, sondern 
nur Vergehen seien, doch wegen ihres politischen 
Charakters zur Zuständigkeit der Schwurgerichte 
gehören sollten. 
Daß das deutsche Strafgesetzbuch keinen Auf- 
schluß über den Begriff gibt, weil ihm der Aus- 
druck völlig fremd ist, ist bereits erwähnt. Die 
Motive zu seinem Entwurf jedoch sprechen von den 
politischen Verbrechen, aber in einem Sinn, der 
zur Klärung nur wenig beiträgt. Sie gehen da- 
von aus, daß das (damals) neu zu schaffende ge- 
meinsame Strafrecht von dem Grundsatz getragen 
sein müsse, das ganze Bundesgebiet sei als In- 
land und jeder Bundesangehörige als Inländer 
aufzufassen. Aus dieser staatsrechtlichen Prämisse 
heraus müsse das im Entwurf enthaltene ganze 
„politische“ Bundesstrafrecht (wenn eine solche 
Begriffsbezeichnung gestattet sei) gebildet werden. 
„Am ausgeprägtesten muß natürlich“, so heißt es 
weiter, „dieser Grundgedanke auf denjenigen Ge- 
bieten des Strafrechts zum Ausdruck gelangen, in 
welchen die eigentlich politischen Verbrechen 
behandelt werden, und er wird daher die Abschnitte, 
welche die politischen Verbrechen im eminenten 
Sinn — den Hochverrat, den Landesverrat, feind- 
liche Handlungen gegen befreundete Staaten, die 
gegen die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte 
und gegen die Staatsgewalt als solche gerichteten 
strafbaren Handlungen — zum Gegenstand haben, 
in allen ihren Einzelbeziehungen durchdringen und 
beherrschen müssen.“ Daraus folge dann zunächst 
für die Einzelbestimmungen, daß die aufzustellen- 
den Begriffe des Hochverrats und des Landesver- 
rats andere sein müssen als für ein Sonderstraf- 
gesetz eines Einzelstaats. Hier sind also die poli- 
tischen Delikte „im eminenten Sinn“ deutlich 
bezeichnet, was den Schluß rechtfertigt, daß da- 
neben auch noch andere Delikte bestehen, die eben- 
falls politischer Natur, wenn auch nicht im emi- 
nenten Sinn, seien, wobei dahingestellt bleiben 
mag, ob mit dem letzteren Begriff der der „eigent- 
lichen“ politischen Verbrechen sich decken soll. Es 
ergeben sich aber auch noch weitere Zweifel. Die 
vorgedachten Abschnitte sind nämlich die sechs 
ersten Abschnitte des zweiten Teils des Strafgesetz- 
buchs. Bei der Beratung derselben im Plenum 
23
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.