Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sozialistischer Gedanken. Auf der Gründungs- 
versammlung des Vereins für Sozialpolitik hatte 
Schmoller die Programmrede gehalten, Brentano 
ein für Justiz und Verwaltung bedeutsames Re- 
ferat über Fabrikgesetzgebung erstattet. Im Jahr 
1874 erschien in den Preußischen Jahrbüchern 
ein Vortrag Schmollers über „Die soziale Frage 
und der preußische Staat". Schmoller führt darin 
aus: „Den Gefahren der sozialen Zukunft kann 
nur durch ein Mittel die Spitze abgebrochen 
werden: dadurch, daß das König= und Beamten- 
tum, daß diese berufensten Vertreter der Staats- 
gedanken, diese einzig neutralen Elemente im so- 
zialen Klassenkampf, versöhnt mit dem Gedanken 
des liberalen Staats, ergänzt durch die besten 
Elemente des Parlamentarismus, entschlossen und 
sicher, die Initiative zu einer großen sozialen Re- 
formgesetzgebung ergreifen und an diesem Ge- 
danken ein oder zwei Menschenalter unverrückt 
festhalten."“ 
Deutlicher nach der Person Bismarcks gezielt 
war schon drei Jahre zuvor (1871) der Schluß- 
satz von Ad. Wagners Rede über die soziale 
Frage (S. 38): 
„Freilich von der Billigung des Programms bis 
zu seiner praktischen Verwirklichung ist noch ein 
weiter Schritt. Möchte uns Deutschen auch hier 
der große Staatsmann gegeben werden, der die 
Durchführung übernimmt. Man sagt mit Recht: 
Es ist der politische Grundsatz und oft das Merk- 
mal der großen Staatsmänner, daß sie das Richtige 
im Programm der Opposition annehmen und es 
dann mit ihrer Energie und in ihrer Weise durch- 
führen. So handelte unser gewaltiger deutscher 
Staatsmann in unserer großen nationalen Frage. 
So handelte auf einem andern Gebiet Sir Robert 
Peel in der britischen handelspolitischen Reform. 
Vielleicht wird dies auch in der Sozialreform der 
Gang der Dinge sein.“ 
Und Bismarcks Stunde kam. Er fühlte sich 
lange Zeit etwas unsicher auf dem Gebiet der 
sozialen Frage. Mit der ihm eignen Energie 
suchte er nicht nur von seiten der Kathedersozialisten 
sachkundige Berater (Schäffle), sondern gab selbst 
seiner Beamtenwelt und den weitesten Kreisen das 
Beispiel des Strebens nach eigner Kenntnis der 
sozialen Dinge (Ein Jahr Urlaub zum Studium 
der sozialen Frage, Frühjahr 1877). Für die zweite 
Hälfte der 1870er Jahre war damit die Ent- 
scheidung für die reformerische Staatstätigkeit auf 
sozialem und wirtschaftlichem Gebiet gegeben. Die 
ozialen Anträge des Zentrums im Reichstag kamen 
am 19. März 1877. Mit der erwachenden sozial- 
politischen Stimmung erhoben sich auch wieder die 
von der Kulturkampfslast mehrjährig niedergehal- 
tenen sozialpolitischen Neigungen des in den 1860er 
Jahren durch Bischof Ketteler und die christlich- 
soziale Bewegung kräftig beeinflußten katholischen 
Volksteiles. Sofort wurden sie von ernsten Leuten 
als „staatssozialistisc", von Denunzianten als 
„sozialdemokratisch“ erklärt. (Vgl. über die Be- 
teiligung der Katholiken an diesem „Staats- 
  
  
Staatssozialismus. 
  
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sozialismus“ R. Meyer, Emanzipationskampf 1 
121882J 474 482 486 514 usw.; ferner den 
Begriff des „christlichen Sozialismus“ u. Ab- 
schnitt „Staat u. soziale Frage“ in Hitzes Buch 
„Soziale Frage“, das zufällig datiert ist vom 
Tag der gen. sozialpolitischen Zentrumsanträge.) 
Ende 1877 äußerte sich die sozialpolitische 
Energie im Erscheinen einer Wochenschrift für 
Sozialreform „Der Staatssozialist“" mit dem 
Motto: „Die soziale Frage existiert, aber sie kann 
nur gelöst werden durch den starken, monarchischen 
Staat im Bund mit den religiösen und sittlichen 
Faktoren des Volkslebens.“ 
Wenn auch Ad. Wagner in dieser ersten Num- 
mer einen Artikel schrieb „Was ist Sozialismus?" 
und sonstige Kathedersozialisten als Mitarbeiter 
und ihre Forschungsarbeit als vorbildlich be- 
zeichnet waren, so war doch der „Staatssozialis= 
mus“ dieses Blattes und aller hinter ihm Stehen- 
den keineswegs der Staatssozialismus im Sinn 
irgend einer fixierten wirtschaftspolitischen Theorie. 
Staatssozialismus ist vielmehr in dieser Zeit über- 
wiegend die begrifflich unscharfe Sammelbezeich- 
nung für alle antimanchesterlichen Bestrebungen 
im Sinn einer weitgehenden sozialreformerischen 
Staatsgesetzgebung. Die Redaktion sagt: 
„Wenn sich unser Organ, Staatssozialist" nannte, 
so wollte es dadurch zunächst seinen Gegensatz zum 
manchesterlichen laisser faire ausdrücken und eine 
dringende Berufung an den Staat um Errettung 
aus dem Bankrottsystem des Hängen= und Gehen- 
lassens richten. Das Maß der verlangten Staats- 
hilfe sowie die Angriffspunkte derselben sind so- 
wohl unter den Mitgliedern des Reformvereins 
wie auch unter den Mitarbeitern unseres Blattes 
noch kontrovers. Einige verlangen ein großes, die 
andern nur ein kleines Maß von Staatshilfe; die 
einen legen den Schwerpunkt der Sozialreform in 
die Akte der Gesetzgebung, die andern in die freie 
Vereinstätigkeit. Alle diese Gegensätze werden im 
.Stsatssozialist" aufeinanderplatzen und nach 
Klarheit und Vereinigung ringen. Sämtlich sind 
sie aber Widersacher des Manchestertums, des laisser 
faire, und der daraus erzeugten Anarchie."“ 
Diesen weiten Begriff des Staatssozialismus 
läßt auch die Reichsregierung selbst durchklingen 
in der Begründung zur ersten Vorlage über Un- 
fallversicherung. (Man vgl. auch Wasserrab, So- 
ziale Politik im Deutschen Reich (1889] 26 u. 45.) 
Der „Staatssozialist" stellte 1882 sein Erscheinen 
ein mit dem Trost, daß Fürst Bismarck nun doch 
die soziale Politik in seine Hand genommen habe. 
In dem eben erörterten Sinn ist „staatssozia- 
listisch“ zu verstehen, wenn Wagner in den „Aka- 
demischen Blättern“ (1911) von Kaiser Wilhelm I. 
und dem Fürsten Bismarck sagt: „Sie waren im 
größten Sinn des Worts eminente Sozialpolitiker, 
eminente „Staatssozialisten“, ferner die Rubrik 
„Staatssozialismus“ in den Sozialistischen Mo- 
natsheften. 
Das bisher Dargelegte erfährt eine interessante 
Beleuchtung durch eine polemische Außerung des
	        
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