Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

779 
Arbeitsbedingungen handelt — Meliorations- 
streik —. und der Arbeiter darf an einem Streik 
nicht teilnehmen, solange er Rechte, aber keine un- 
veräußerlichen Rechte preisgibt, solange er in seiner 
Selbstbescheidung nicht unsittlich wird, mögen 
seine „Wünsche“ nach Besserstellung noch so be- 
rechtigt sein! Hier ist die Freiheit der Vertrags- 
schließung beseitigt. Es widerspricht aber auch diese 
Theorie über den Streik der Lehre derjenigen katho- 
lischen Moralisten, die zu dieser Frage überhaupt 
Stellung genommen haben. „Wenn die bisherige 
Moral, wie die Wirtschaftslehre, für die Wertbe- 
messung ein freies Spiel der Kräfte zwischen der 
oberen und unteren Hälfte des gerechten Preises 
gestattete, so ist hier dieses Gesetz umgestoßen, 
jeder organisierte Kampf beschränkt auf das Ziel 
des Existenzminimums“ (Mausbach). Vgl. des 
weiteren d. Art. Streik und Aussperrung. 
3. Die Stellung des Staats zum Ver- 
einigungsrecht. Die Koalition im engeren 
Sinn für Arbeitgeber und Arbeitnehmer war bis 
zum Jahr 1861 in Deutschland verboten. Die 
Reichszunftordnung von 1731 bedrohte die Koali- 
tion mit Gefängnis und Zuchthaus. Auf dem- 
selben Standpunkt stand auch noch nach der fran- 
zösischen Revolution die Gesetzgebung, insbeson- 
dere auch der Code pénal. Erst 1864 wurde das 
Koalitionsverbot in Frankreich aufgehoben. 
Nicht anders in England. Hier verschärfte das 
Gesetz von 1800 noch das Koalitionsverbot, das 
Jahr 1824 hob es vorübergehend auf, und erst 
durch den Trade Union Act von 1871 und das 
Gesetz von 1875 wurde Koalitionsfreiheit ge- 
währt. In Deutschland hat erst die Gewerbe- 
ordnung durch den § 152 die bisherigen Verbote 
und Strafbestimmungen aufgehoben und trotz der 
negativen Ausdrucksweise das Koalitionsrecht be- 
gründet. § 152, Abs. 1 der G.O. lautet: 
„Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Ge- 
werbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder 
Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Ver- 
einigungen zum Behuf der Erlangung günstiger 
Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mit- 
tels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Ar- 
beiter werden ausgehoben."“ 
Durch § 152 G.O. ist also dem Gewerbe- 
treibenden und den gewerblichen Arbeitern 
das Recht der Koalition eingeräumt und ihnen 
gestattet, beliebige Mittel, wenn sie nicht schon an 
und für sich, von der Koalition abgesehen, gegen 
ein Strafgesetz verstoßen, oder im folgenden § 153 
G.O. unter Strafe gestellt sind, zur Erlangung 
günstiger Arbeitsbedingungen zu gebrauchen. Es 
ist nicht erforderlich, daß die Erlangung günsti- 
gerer Lohn- und Arbeitsbedingungen angestrebt 
wird. Auch das Fortbestehen der bisherigen Be- 
dingungen kommt in Betracht. Nicht notwendig 
ist, daß die günstigeren Lohn= und Arbeitsverhält- 
nisse für die Koalition selbst erstrebt werden, auch 
sog. Sympathiestreiks gehören hierher. Nach stän- 
diger Rechtsprechung findet der §8 152, Abs. 1 
Vereinigungsrecht. 
  
780 
G.O. aber nur dann Anwendung, wenn es sich 
um Veränderung der Lohn= und Arbeitsverhält- 
nisse an einem bestimmten Ort, in einem be- 
stimmten Gewerbe oder in einem bestimmten 
Arbeitsverhällnis handelt, nicht aber dann, wenn 
eine allgemeine Verbesserung der Lohn= und 
Arbeitsverhältnisse erstrebt wird, z. B. durch Ver- 
besserung der Gesetzgebung. Sobald die Arbeiter- 
koalition den konkreten Arbeitsvertrag verläßt und 
eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf 
mittelbarem Weg, z. B. durch Einwirkung 
auf die Gesetzgebung, durch Eingaben an Behörden, 
zu erreichen sucht, entbehrt sie des Schutzes und 
unterliegt der landes= bzw. reichsgesetzlichen Be- 
schränkung der Vereinsfreiheit und der Versamm- 
lungsfreiheit. Tatsächlich aber läßt sich die Er- 
örterung der „konkreten Lohn- und Arbeitsbedin- 
gungen“ in den meisten Fällen kaum von derjenigen 
der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse we- 
nigstens in dem gesamten in Betracht kommenden 
Industriezweig trennen. Jedenfalls ist die Er- 
zielung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen 
nur ein Teil der Aufgaben, die die Arbeiterkoali- 
tionen sich stellen, und die oben bezeichneten Gren- 
zen lassen sich nur in den seltensten Fällen einhalten. 
Begriff und Umfang der Vereinsfreiheit war aber 
bei den einzelnen Landesgesetzen ein sehr verschie- 
dener und wurden diese erst am 19. April 1908 
durch das „Reichsvereinsgesetz“ (R.V.G.) ersetzt. 
Von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung 
der Vereinigungsfreiheit und damit der Gewerk- 
schaftsbewegung wird es sein, welche Auslegung die 
Rechtsprechung den Begriffen „Verein“, „öffent- 
liche“ und „politische“ Angelegenheit, 88 3, 5 
NR.V.G., angedeihen löäßt. Nach wie vor ist daran 
"estzuhalten, daß Arbeitervereinigungen der frag- 
lichen Art (Gewerkschaften) an sich dem Privat- 
recht angehören und keine politischen Vereine dar- 
stellen. Sie unterliegen daher nicht der Anzeige- 
pflicht des § 3 R.V.G. Ebenso sind im § 6 
N.V.G. ausdrücklich ihre öffentlichen Versamm- 
lungen als nicht anzeigepflichtig bezeichnet 
worden. Jedenfalls soll dieses Gesetz nach einer 
Erklärung des Staatssekretärs (Kommissionsbe- 
richt S. 36) „freier gestaltet sein als die bisher 
geltenden Gesetze“". Von dem Umfang der Ver- 
einsfreiheit hängt somit die Bedeutung der Koali- 
tionsfreiheit und die Existenzfähigkeit der Arbeiter- 
vereine wesentlich ab. 
4. Das Vereinigungsrecht der ge- 
werblichen Arbeiter. Welche Arbeiter dürfen 
sich koaliieren? Der § 152 G.O. findet nur An- 
wendung auf gewerbliche Arbeiter, das sind nur 
solche, die der G. O. unterstehen. Zu den gewerb- 
lichen Arbeitern gehören auch die Bergleute 
(§ 154. Abs. 1 G.O.). Er gilt auch für das 
Apothekergewerbe und für das Handelsgewerbe, 
nicht aber für die Gewerbe, auf die die G. O. nach 
ausdrücklicher Bestimmung des 8 6 keine Anwen- 
dung findet — Bemannung der Seeschiffe —, und 
auch nicht für Lehrlinge. Hausgewerbetreibende
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.