63 Staatssozialismus. 64
sozialdemokratischen Parteiführers Bebel anläßlich einem ganz bestimmten engeren Sinn. (Grund-
einer Diskussion über die Stellung der Sozial= legung der polit. Okonomie 1892, J. Tl, 758 ff;
demokratie zum Staatssozialismus auf dem Partei= im folgenden zitiert: Gr. 15.) „Wissenschaftlichkann
tag zu Berlin 1892 (Handbuch der Parteitage
—— "
„Ich sage, man kann überhaupt keine wissenschaft-
liche Definition des Staatssozialismus geben.
Wir haben Staatssozialisten eine ganze Menge,
aber es gibt keinen Staatssozialismus als System,
das man auf ganz bestimmte konkrete Grundsätze
basieren könnte. Das Wort Staatssozialismus ist
ein rein deutscher, ich möchte sagen, echt preußischer
Begriff, denn der eigentliche Staatssozialismus ist
von allen Staaten der Welt nur in Preußen mög-
lich. Der cäsfarisch-demagogische Charakter des
preußischen Staats macht es allein möglich, daß
man hier von Staatssozialismus sprechen kann.
Wie ist das Wort überhaupt entstanden? In den
1870er Jahren, als die gelehrten Kreise anfingen
zu begreifen, daß die sozialistische Bewegung eine
sehr ernsthafte Bewegung sei, und daß man mit dem
bloßen Negieren aller ihrer Forderungen nicht mehr
auskomme, da traten einige Leute in Deutschland
aus Klugheitsrücksichten und aus praktischen Grün-
den auf und sagten, der Staat muß eingreifen.
Allerdings hat bereits 1842 Rodbertus seine be-
kannten Briefe, die man später als staatssozialisti-
sche bezeichnete, veröffentlicht, aber zu jener Zeit
dachte Rodbertus nicht an Staatssozialismus. Man
bezeichnete später unter diesem Namen alles, was
man vom Staat auf ökonomischem Gebiet verwirk-
licht wünschte. Also erst als die sozialistische Be-
wegung anfing, für den bestehenden Staat eine ge-
wisse Gefährlichleit anzunehmen, kam man auf sog.
staatssozialistische Gedanken. Da wurde das Wort
es sich nur um zwei Bedeutungen des Wortes
handeln, um eine allgemeinere und eine speziellere,
und in der letzteren um einen extremen oder voll-
ständigen (marxistischen) und um einen partiellen
Sozialismus, wie den Staatssozialismus. Im
allgemeineren Sinn ist „Sozialismus“ der Gegen-
satz zum Individualismus, daher ein Prinzip der
Ordnung der Gesellschaft und Volkswirtschaft zu-
nächst nach den Bedürfnissen dieses als Gesamt-
heiten, Gemeinschaftsheiten, Totalitäten oder von
Gesellschaftswegen, während „Individualismus"
ein Prinzip ist, das in Gesellschaft und Volks-
wirtschaft das Individuum voranstellt, zum Aus-
gangspunkt nimmt und dessen Interessen und
Wünsche zur Norm für die Gesellschaft und Volks-
wirtschaft macht. Sozialismus und Indi-
sinaalismus in diesem allgemeineren Sinn sind
zwei Lebensprinzipien der Gesellschaft und Volks-
wirtschaft, ihre Verwirklichung in wechselndem
Maß durchzieht die Geschichte beider letzteren.
Das sozialistische Prinzip ist aber aus entwick-
lungsgesetzlichen, namentlich wieder mit der Pro-
duktionstechnik zusammenhängenden Gründen bei
fortschreitenden Kulturvölkern, zumal unserer
Periode, im Vordringen begriffen. Aus dem
Gesagten folgt auch, daß jede einzelne volkswirt-
schaftliche Erscheinung und volkswirtschaftspoli-
tische Maßregel notwendig immer ein sozialistisches
und individualistisches Moment enthält, von denen
1
erst erfunden; Oppenheim erfand zunächst das bald das eine bald das andere zu begünstigen ist.
Wort Kathedersozialismus für diejenigen, die sich Auf dem Boden dieses (allgemeineren) „Sozialis=
vom Manchestertum abwandten. Das war auch mus hat sich nun in neuerer Zeit eine wesentlich
nur in Deutschland möglich, denn in England, wo
ahnliche Fragen längst diskutiert wurden, existierte
dieser Begriff nicht. Später wurde dann das Wort
Kathedersozialismus in Staatssozialismus um-
gewandelt. Darunter verstand man namentlich die
Maßregeln, die Fürst Bismarck nach den Atten-
taten von 1878 und nach Erlaß des Ausnahme--
gesetzes als staatssozialistische Reformen durch-
setzte, um mit ihrer Hilfe die Partei tot zu machen.
In der bekannten kaiserlichen Erklärung, welche die
neue Sozialreform inauguriert, wurde klar aus-
gesprochen, daß man damit bezweckte, die Arbeiter
der Sozgialdemokratie abwendig zu machen, und
dieser Gedanke liegt den staatssozialistischen Maß-
regeln bis zum heutigen Tag zugrunde. Wenn,
man also gewisse unserer Forderungen berücksichtigt,
so tut man es nicht uns zuliebe, sondern uns zum
Trutz. Man will die Massen gewinnen und sie von!
uns loslösen. Deshalb darf man nicht fragen: Wie
stehen wir zum Staatssozialismus' sondern man!
muß umgekehrt fragen: Wie steht der Staatssozia-
lismus zu uns?“
3. Der Staatssozialismus als wirt-
schafts= und sozialpolitische Theorie.
Adolf Wagner ist der erste, der das Wort Staats-
sozialismus zur Bezeichnung eines von ihm selbst
bestimmten wirtschaftspolitischen Systems in An-
spruch nimmt. Wagner faßt „Sozialismus hier in
ökonomische Theorie entwickelt, welche mit dem
Namen „Sozialismus“ belegt worden ist: der
Sozialismus im spezielleren Sinn. Diese Theorie,
durch Franzosen und Engländer begründet, ist
durch Deutsche (einerseits Rodbertus, anderseits
Marx, Engels, Lassalle) gerade in ihrem öko-
nomischen Kern, nach der Seite der Kritik der
bestehenden Wirtschaftsordnung und der Postu-
late für eine Neugestaltung der letzteren, wissen-
schaftlich ausgebildet und zu begründen gesucht
worden. Diese deutsche sozialistische Theorie bildet
den „#extremen Sozialismus“ oder den „modernen
wissenschaftlichen ökonomischen Sozialismus".“
„Der eigentliche Staatssozialismus ist nun in
der Tat wie der ökonomische Individualismus
und Sozialismus eine eigne geschlossene ökono-
mische Doktrin und ein System der Wirtschafts-
politik. Er nimmt bewußt und mit bestimmten
Tendenzen und Zielpunkten und gewollten Folgen
eine vermittelnde Stellung in Theorie und Praxis
der Volkswirtschaft zwischen jenen beiden, dem
Individualismus und dem Sozialismus ein“
(Gr. 1° 58 f). Wagner selbst ist sich bewußt,
daß damit noch nicht die entscheidenden Merk-
male für eine Sondertheorie herausgearbeitet sind,
sondern nur das Feld für eine solche in weiten