65
Umrissen abgesteckt ist: „Das tut zwar im Grunde
jede nicht extreme individualistische oder sozialisti-
sche wirtschaftliche Doktrin und vollends jede bis-
her geschichtlich vorgekommene Praxis, jede kon-
krete Volkswirtschaftspolitik, welche stets auf einen
Kompromiß zwischen Individual- und Sozial-
prinzip hinausläuft."
Wagner müht sich um eine möglichst deutliche
Herausarbeitung aller unterscheidenden Merkmale
seines besondern theoretisch-praktischen Systems:
„Der Staatssozialismus unterscheidet sich hiervon
indessen als Doktrin und Wirtschaftspolitik da-
durch, daß er prinzipiell dem Sozialismus ent-
gegenkommt, weil er dessen Kritik teilweise für
berechtigt und dessen Forderungen in Bezug auf
die Eigentumsordnung teilweise für erfüllbar und
die Erfüllung für erwünscht hält. Insoweit ent-
fernt er sich auch prinzipiell vom Individualis-
mus. Aber anderseits hält er gegenüber jenen
Forderungen des Sozialismus wieder eine prin-
zipielle Schranke inne, weil er eine prinzipielle
Berechtigung und Notwendigkeit auch des Indi-
vidualismus, und zwar im Gemeinschaftsinteresse,
anerkennt. Nur einen schrankenlosen Individua-
lismus, nicht einen nach sozialen Rücksichten ein-
zuchrünkenden verwirft er.“
Im Lauf der Jahre klärten sich Wagner mehr
und mehr folgende Gesichtspunkte (Theoret. So-
zialökonomik 11907, 1. Abt.): „Um dem volks-
wirtschaftlichen Interesse in Produktion und Ver-
teilung besser zu dienen, sollen die faktischen Mo-
nopole auch im Konkurrenzsystem beseitigt werden
nicht bloß aus praktischen, ökonomischen, techni-
schen Zweckmäßigkeitsgründen, sondern auch aus
prinzipiellen wirtschaftsorganisatorischen
Gründen.“ In diesem Sinn läßt ihn sein System
folgende Forderungen stellen:
a) Verstaatlichung von Wirtschafts-
zweigen. „Diese Forderung von Verstaat-
lichungen und Verkommunalisierungen bildet den
einen Grundpfeiler des Gedankens des Staats-
sozialismus.“ So erklärt Wagner in den Akad.
Blättern (1911). Folgende Gründe gibt er für
die Verstaatlichungen an:
1) weil der Staat und die Gemeinde es viel-
fach besser machen als die Privatindustrie, für die
der Gewinn vor allem maßgebend sein muß;
2) weil durch den Staat und seine Einrich-
tungen die gemeinnützigen und sozialen Inter-
essen am besten gewahrt werden und weil die
Privatindustrie diese Interessen oft nicht berück-
sichtigt;
3) weil nur so die großen Gewinne, die nicht
aus der Arbeit eines einzelnen, sondern aus den
gesamten Verhältnissen hervorgehen, von den
Privatgesellschaften auf den Staat und die Ge-
meinde übertragen werden können;
4) weil wir dadurch die privatkapitalistische
Macht unter den Staat beugen. Namentlich bei
Gefahr des Eintritts faktischer Monopole auf
wichtigen Wirtschaftsgebieten, wenn sie ganz der
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Staatssozialismus.
66
Privatwirtschaft überlassen werden, droht sonst
eine bedenkliche Entwicklung.
Als Wagner sich früher (Gr. I18 757 ff) da-
hin geäußert hatte, daß er, abgesehen von
dem öffentlichen Beamtentum, besonders in den
staatlichen und kommunalen Verkehrs= und Er-
werbsunternehmungen „partiellen Sozialismus“
sehe, wurde dies von sozialistischer Seite und
besonders auch aus den Reihen der andern
Kathedersozialisten abgelehnt. Man wies vor
allem auch auf die oft sehr unsoziale und unan-
genehme juristische Persönlichkeit des kommunalen
oder staatlichen Fiskus hin, der hinter allen diesen
Veranstaltungen stehe. Wagner will jedoch anders
verstanden sein: „Man hat auch Maßregeln wie
die Ubernahme großer wirtschaftlicher Unterneh-
mungen auf die öffentlichen Körper, auf Staat,
Gemeinde, Staatsbahnwesen, Eisenbahnverstaat-
lichung u. dgl. ohne weiteres so („Staatssozia-
lismus"!) genannt. Das ist unter gewissen Vor-
aussetzungen auch nicht unzulässig. Aber diese
Voraussetzungen liegen bei diesen Maßregeln nicht
notwendig immer vor, und in der Praxis sowie
bei ihren theoretischen und politischen Vertretern
waren sie bisher sogar in der Regel nicht vor-
handen. . Ganz einseitig und tendenziös ist
es, wenn in den Entwürfen zu dem neuesten
(Erfurter) Programm der Sozialdemokratie ein
(in das Programm selbst nicht mit aufgenom-
mener) Passus den Staatssozialismus als ein
„System der Verstaatlichung zu fiskalischen Zwecken"
bezeichnet und ihn verwarf. Diese Zwecke können
mitspielen — und zum Vorteil gerade der Ge-
meinschaft —, abersie sind nicht das Entscheidende.“
An anderer Stelle läßt Wagner das Entscheidende
seiner Theorie deutlicher erkennen: „Ersetzung
von Privateigentum an Kapitalien und Grund-
stücken durch gesellschaftliches, d. h. aber gleich
genauer bezeichnet durch staatliches, kommunales
u. dgl. Eigentum und damit die Ersetzung von
Privatwirtschaft durch Gemeinwirtschaft.“ Dazu
fügt Wagner sofort eine sehr wesentliche Ein-
schränkung bei, die den Staatssozialismus fun-
damental vom marxistischen Sozialismus unter-
scheidet: „Aber er beschränkt seine Forderung auf
eine teilweise Ersetzung, nämlich nur da, wo es
nach Lage der konkreten Verhältnisse ökonomisch
und technisch möglich und zweckmäßig und zugleich
sozialpolitisch wünschenswert und passend ist. Das
Vorhandensein dieser Bedingungen nimmt er nicht,
wie der Sozialismus (der marxistische) in seinen
Behauptungen, überall von vornherein unbedingt
als erwiesen an, sondern er verlangt erst den Be-
weis dafür. Er setzt sich dabei auch über die psycho-
logischen wie praktisch-technischen und politischen
Bedenken und Schwierigkeiten einer gemeinwirt-
schaftlichen, auf der Grundlage gesellschaftlichen
Gemeineigentums ruhenden Organisation der
Volkswirtschaft nicht einfach hinweg, sondern hält
eine eingehende objektive Auseinandersetzung mit
denselben für erforderlich und für seine Aufgabe.“
3