Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Umrissen abgesteckt ist: „Das tut zwar im Grunde 
jede nicht extreme individualistische oder sozialisti- 
sche wirtschaftliche Doktrin und vollends jede bis- 
her geschichtlich vorgekommene Praxis, jede kon- 
krete Volkswirtschaftspolitik, welche stets auf einen 
Kompromiß zwischen Individual- und Sozial- 
prinzip hinausläuft." 
Wagner müht sich um eine möglichst deutliche 
Herausarbeitung aller unterscheidenden Merkmale 
seines besondern theoretisch-praktischen Systems: 
„Der Staatssozialismus unterscheidet sich hiervon 
indessen als Doktrin und Wirtschaftspolitik da- 
durch, daß er prinzipiell dem Sozialismus ent- 
gegenkommt, weil er dessen Kritik teilweise für 
berechtigt und dessen Forderungen in Bezug auf 
die Eigentumsordnung teilweise für erfüllbar und 
die Erfüllung für erwünscht hält. Insoweit ent- 
fernt er sich auch prinzipiell vom Individualis- 
mus. Aber anderseits hält er gegenüber jenen 
Forderungen des Sozialismus wieder eine prin- 
zipielle Schranke inne, weil er eine prinzipielle 
Berechtigung und Notwendigkeit auch des Indi- 
vidualismus, und zwar im Gemeinschaftsinteresse, 
anerkennt. Nur einen schrankenlosen Individua- 
lismus, nicht einen nach sozialen Rücksichten ein- 
zuchrünkenden verwirft er.“ 
Im Lauf der Jahre klärten sich Wagner mehr 
und mehr folgende Gesichtspunkte (Theoret. So- 
zialökonomik 11907, 1. Abt.): „Um dem volks- 
wirtschaftlichen Interesse in Produktion und Ver- 
teilung besser zu dienen, sollen die faktischen Mo- 
nopole auch im Konkurrenzsystem beseitigt werden 
nicht bloß aus praktischen, ökonomischen, techni- 
schen Zweckmäßigkeitsgründen, sondern auch aus 
prinzipiellen wirtschaftsorganisatorischen 
Gründen.“ In diesem Sinn läßt ihn sein System 
folgende Forderungen stellen: 
a) Verstaatlichung von Wirtschafts- 
zweigen. „Diese Forderung von Verstaat- 
lichungen und Verkommunalisierungen bildet den 
einen Grundpfeiler des Gedankens des Staats- 
sozialismus.“ So erklärt Wagner in den Akad. 
Blättern (1911). Folgende Gründe gibt er für 
die Verstaatlichungen an: 
1) weil der Staat und die Gemeinde es viel- 
fach besser machen als die Privatindustrie, für die 
der Gewinn vor allem maßgebend sein muß; 
2) weil durch den Staat und seine Einrich- 
tungen die gemeinnützigen und sozialen Inter- 
essen am besten gewahrt werden und weil die 
Privatindustrie diese Interessen oft nicht berück- 
sichtigt; 
3) weil nur so die großen Gewinne, die nicht 
aus der Arbeit eines einzelnen, sondern aus den 
gesamten Verhältnissen hervorgehen, von den 
Privatgesellschaften auf den Staat und die Ge- 
meinde übertragen werden können; 
4) weil wir dadurch die privatkapitalistische 
Macht unter den Staat beugen. Namentlich bei 
Gefahr des Eintritts faktischer Monopole auf 
wichtigen Wirtschaftsgebieten, wenn sie ganz der 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
Staatssozialismus. 
  
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Privatwirtschaft überlassen werden, droht sonst 
eine bedenkliche Entwicklung. 
Als Wagner sich früher (Gr. I18 757 ff) da- 
hin geäußert hatte, daß er, abgesehen von 
dem öffentlichen Beamtentum, besonders in den 
staatlichen und kommunalen Verkehrs= und Er- 
werbsunternehmungen „partiellen Sozialismus“ 
sehe, wurde dies von sozialistischer Seite und 
besonders auch aus den Reihen der andern 
Kathedersozialisten abgelehnt. Man wies vor 
allem auch auf die oft sehr unsoziale und unan- 
genehme juristische Persönlichkeit des kommunalen 
oder staatlichen Fiskus hin, der hinter allen diesen 
Veranstaltungen stehe. Wagner will jedoch anders 
verstanden sein: „Man hat auch Maßregeln wie 
die Ubernahme großer wirtschaftlicher Unterneh- 
mungen auf die öffentlichen Körper, auf Staat, 
Gemeinde, Staatsbahnwesen, Eisenbahnverstaat- 
lichung u. dgl. ohne weiteres so („Staatssozia- 
lismus"!) genannt. Das ist unter gewissen Vor- 
aussetzungen auch nicht unzulässig. Aber diese 
Voraussetzungen liegen bei diesen Maßregeln nicht 
notwendig immer vor, und in der Praxis sowie 
bei ihren theoretischen und politischen Vertretern 
waren sie bisher sogar in der Regel nicht vor- 
handen. . Ganz einseitig und tendenziös ist 
es, wenn in den Entwürfen zu dem neuesten 
(Erfurter) Programm der Sozialdemokratie ein 
(in das Programm selbst nicht mit aufgenom- 
mener) Passus den Staatssozialismus als ein 
„System der Verstaatlichung zu fiskalischen Zwecken" 
bezeichnet und ihn verwarf. Diese Zwecke können 
mitspielen — und zum Vorteil gerade der Ge- 
meinschaft —, abersie sind nicht das Entscheidende.“ 
An anderer Stelle läßt Wagner das Entscheidende 
seiner Theorie deutlicher erkennen: „Ersetzung 
von Privateigentum an Kapitalien und Grund- 
stücken durch gesellschaftliches, d. h. aber gleich 
genauer bezeichnet durch staatliches, kommunales 
u. dgl. Eigentum und damit die Ersetzung von 
Privatwirtschaft durch Gemeinwirtschaft.“ Dazu 
fügt Wagner sofort eine sehr wesentliche Ein- 
schränkung bei, die den Staatssozialismus fun- 
damental vom marxistischen Sozialismus unter- 
scheidet: „Aber er beschränkt seine Forderung auf 
eine teilweise Ersetzung, nämlich nur da, wo es 
nach Lage der konkreten Verhältnisse ökonomisch 
und technisch möglich und zweckmäßig und zugleich 
sozialpolitisch wünschenswert und passend ist. Das 
Vorhandensein dieser Bedingungen nimmt er nicht, 
wie der Sozialismus (der marxistische) in seinen 
Behauptungen, überall von vornherein unbedingt 
als erwiesen an, sondern er verlangt erst den Be- 
weis dafür. Er setzt sich dabei auch über die psycho- 
logischen wie praktisch-technischen und politischen 
Bedenken und Schwierigkeiten einer gemeinwirt- 
schaftlichen, auf der Grundlage gesellschaftlichen 
Gemeineigentums ruhenden Organisation der 
Volkswirtschaft nicht einfach hinweg, sondern hält 
eine eingehende objektive Auseinandersetzung mit 
denselben für erforderlich und für seine Aufgabe.“ 
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