67
Mit derartigen einschränkenden, vorsichtigen Be-
merkungen nimmt Wagner allerdings der Kritik
viele Angriffspunkte vorweg.
b) Der Staatssozialismus Ad. Wagners er-
strebt weiterhin nach der jüngsten Formulierung:
eingreifendere Reglung des privatwirt-
schaftlichen Produktions= und Wirt-
schaftssystems mit entsprechender Rückwirkung
auf den Verteilungsprozeß (Einkommen, Privat-
vermögen, Preisbildung).
„. Im modernen entfesselten Privatkapitalis=
mus als Wirtschaftssystem sieht auch der Staats-
sozialismus eine Einrichtung, welche für eine
gesunde, dem wahren Gesellschafts= und Volks-
wirtschaftsinteresse entsprechende Lösung des Pro-
duktions- und Verteilungsproblems nicht geeignet
ist, ohne freilich den Ersatz dieses Systems für so
einfach und so leicht, wie der Sozialismus es tut,
zu halten“ (Gr. 12 60).
JP) Der Staatssozialismus stellt seinen Grund-
gedanken entsprechende sozialpolitische,
finanz= und steuerpolitische Forde-
rungen. Wagner hat allerdings kein „fix und
fertiges“ Programm zur Erledigung aller konkreten
Fragen in der Sozialgesetzgebung oder auch nur
in seinem besondern Spezialgebiet der Steuer-
politik. Zerstreut durch seine Schriften ist vieles
vorhanden, was zu einer Sammlung konkreter
Vorschläge gestaltet werden könnte. In seiner
schon oben genannten Rede über die soziale Frage
(gehalten am 12. Okt. 1871, also lange vor der
Vollendung seines staatssozialistischen Systems)
begegnet uns schon eine größere Zusammenstellung
von konkreten sozialpolitischen Maßregeln (Lohn-
erhöhung, Verminderung der Arbeitszeit, Ver-
sicherung gegen Krankheit, Invalidität und Alter,
Schutzgesetzgebung, geistige, sittliche, religiöse
Hebung, Steuerreform). Schon damals bemerkte
er, die einzelnen in Betracht kommenden Maß-
regeln bilden ein zusammenhängendes System.
Den Befürchtungen gegenüber staats-
sozialistischen Experimenten im Besteuerungswesen
und im allgemeinen Wirtschaftsleben sucht Wagner
zuvorzukommen. Mit allem Nachdruck verlangt
er nämlich in seiner Theorie für die praktische
staatspolitische Realisierung sorgfältige Beachtung
der vorhandenen Wirklichkeit (Gr. 15 757):
„Es handelt sich daher auch hier, ebenso wie
bei dem Sozialismus in der obigen allgemeineren
Bedeutung dem Individualismus gegenüber, nicht
um ein Entweder — Oder, sondern um ein
Sowohl — Als auch und ein Mehr oder
Weniger zwischen diesem ertremen ökonomischen
Sozialismus und dem ökonomischen Individua-
lismus der neuen Nationalökonomie. Gerade
dieser Umstand erschwert die theoretische und prak-
tische Aufgabe sehr, denn damit erweist sich eine
Abwägung von Fall zu Fall unvermeidlich.“
Daher betont er, daß sein Staatssozialismus
sorgfältig die Wechselwirkung beachte zwischen
Wirtschaftsleben, Rechtsordnung, Sittlichkeit usw.
Staatssozialismus.
68
Dabei lehnt er die einseitige materialistische Auf-
fassung des marxistischen Sozialismus ab. „Jede
Erscheinung des Wirtschaftslebens, jede Einrich-
tung der wirtschaftlichen Rechtsordnung, aber auch
zahlreiche und wichtigste Erscheinungen des gesell-
schaftlichen Lebens, der Kultur, der Sitte, Sitt-
lichkeit bringt er (der Staatssozialismus) in Zu-
sammenhang mit den allgemeinen Fragen der
Eigentumsordnung und Wirtschaftsorganisation,
untersucht sie in ihrer Wechselwirkung mit Pro-
duktion und der Verteilung, beurteilt sie nach dem
Ergebnis dieser Untersuchung und nimmt wesent-
lich mit danach seine Stellung zu ihnen und zu
allen auf sie bezüglichen Fragen der Wirt-
schaftspolitik und Rechtsordnung.“
Die Schwierigkeiten und Mängel, die
in der Bezeichnung Staatssozialismus für sein
System enthalten sind, fühlt Wagner selbst her-
aus (Gr. 18 60 f): „Der Ausdruck selbst ist neu,
hat sich aber, wie „Kathedersozialismus“, ja mehr
als dieser, bei uns wie bei den andern Kultur-
völkern rasch eingebürgert, um einen freilich den
meisten Gegnern und manchen Anhängern nicht
genügend klar umschlossenen sozialpolitischen Ge-
dankenkreis zu bezeichnen. Ich halte an dem Aus-
druck im Sinn des Vorausgehenden fest. Er ist
auch schwer durch einen andern ähnlich geeigneten
und namentlich ebenso erwünscht kurzen zu er-
setzen. Ein Mangel, weil von vornherein Vor-
urteile und Mißverständnisse leicht hervorrufend,
ist freilich die ausschließliche Bezugnahme auf den
Staat in dem Ausdruck. Festzuhalten ist um so
mehr, daß hier nach der Regel a potiori fit de-
nominatio verfahren ist. Der „Staat" bezeichnet
hier alle andern öffentlichen Körper, namentlich
die Verbände und Gemeinden, auch öffentliche
Zweckverbände mit; ferner der „Staat“ im Wort
„Staatssozialismus“ kommt nicht nur als die,Ge-
meinwirtschaft“, welche unmittelbar (wie auch die
Gemeinde usw.) Wirtschaftsaufgaben, auch ma-
terielle (z. B. Verkehrswesen), übernimmt, sondern
auch als der Faktor für Aus= und Fortbildung
wie jeder so auch der privatwirtschaftlichen Rechts-
ordnung bei entwickelten Kulturvölkern in Be-
tracht. „Staatssozialismus“" schließt daher begriff-
lich nicht den Gedanken der Übertragung der
gesamten Produktion und Verteilung auf den
Staat in sich und besagt ebensowenig den grund-
sätzlichen Ausschluß des privatwirtschaftlichen Sy-
stems aus der Volkswirtschaft. Wohl aber mag
der Ausdruck passend gleich auf die Aufgabe der
Reglung, Normierung der ganzen wirtschaftlichen
Rechtsordnung, auch derjenigen für den privat-
wirtschaftlichen Verkehr, namentlich durch den
Staat und im ssozialen“ Interesse hindeuten. In
besondern Fällen muß man sich genauerer Be-
schreibungen und Umgrenzungen bedienen, hier und
da auch statt von „Staatssozialismus' von „Kom-
munalsozialismus“ und ähnlichem sprechen.“
Wagner sieht übrigens im Staatssozialismus
nicht bloß ein gedankenmäßiges, theoretisches Sy-