Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Mit derartigen einschränkenden, vorsichtigen Be- 
merkungen nimmt Wagner allerdings der Kritik 
viele Angriffspunkte vorweg. 
b) Der Staatssozialismus Ad. Wagners er- 
strebt weiterhin nach der jüngsten Formulierung: 
eingreifendere Reglung des privatwirt- 
schaftlichen Produktions= und Wirt- 
schaftssystems mit entsprechender Rückwirkung 
auf den Verteilungsprozeß (Einkommen, Privat- 
vermögen, Preisbildung). 
„. Im modernen entfesselten Privatkapitalis= 
mus als Wirtschaftssystem sieht auch der Staats- 
sozialismus eine Einrichtung, welche für eine 
gesunde, dem wahren Gesellschafts= und Volks- 
wirtschaftsinteresse entsprechende Lösung des Pro- 
duktions- und Verteilungsproblems nicht geeignet 
ist, ohne freilich den Ersatz dieses Systems für so 
einfach und so leicht, wie der Sozialismus es tut, 
zu halten“ (Gr. 12 60). 
JP) Der Staatssozialismus stellt seinen Grund- 
gedanken entsprechende sozialpolitische, 
finanz= und steuerpolitische Forde- 
rungen. Wagner hat allerdings kein „fix und 
fertiges“ Programm zur Erledigung aller konkreten 
Fragen in der Sozialgesetzgebung oder auch nur 
in seinem besondern Spezialgebiet der Steuer- 
politik. Zerstreut durch seine Schriften ist vieles 
vorhanden, was zu einer Sammlung konkreter 
Vorschläge gestaltet werden könnte. In seiner 
schon oben genannten Rede über die soziale Frage 
(gehalten am 12. Okt. 1871, also lange vor der 
Vollendung seines staatssozialistischen Systems) 
begegnet uns schon eine größere Zusammenstellung 
von konkreten sozialpolitischen Maßregeln (Lohn- 
erhöhung, Verminderung der Arbeitszeit, Ver- 
sicherung gegen Krankheit, Invalidität und Alter, 
Schutzgesetzgebung, geistige, sittliche, religiöse 
Hebung, Steuerreform). Schon damals bemerkte 
er, die einzelnen in Betracht kommenden Maß- 
regeln bilden ein zusammenhängendes System. 
Den Befürchtungen gegenüber staats- 
sozialistischen Experimenten im Besteuerungswesen 
und im allgemeinen Wirtschaftsleben sucht Wagner 
zuvorzukommen. Mit allem Nachdruck verlangt 
er nämlich in seiner Theorie für die praktische 
staatspolitische Realisierung sorgfältige Beachtung 
der vorhandenen Wirklichkeit (Gr. 15 757): 
„Es handelt sich daher auch hier, ebenso wie 
bei dem Sozialismus in der obigen allgemeineren 
Bedeutung dem Individualismus gegenüber, nicht 
um ein Entweder — Oder, sondern um ein 
Sowohl — Als auch und ein Mehr oder 
Weniger zwischen diesem ertremen ökonomischen 
Sozialismus und dem ökonomischen Individua- 
lismus der neuen Nationalökonomie. Gerade 
dieser Umstand erschwert die theoretische und prak- 
tische Aufgabe sehr, denn damit erweist sich eine 
Abwägung von Fall zu Fall unvermeidlich.“ 
Daher betont er, daß sein Staatssozialismus 
sorgfältig die Wechselwirkung beachte zwischen 
Wirtschaftsleben, Rechtsordnung, Sittlichkeit usw. 
Staatssozialismus. 
  
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Dabei lehnt er die einseitige materialistische Auf- 
fassung des marxistischen Sozialismus ab. „Jede 
Erscheinung des Wirtschaftslebens, jede Einrich- 
tung der wirtschaftlichen Rechtsordnung, aber auch 
zahlreiche und wichtigste Erscheinungen des gesell- 
schaftlichen Lebens, der Kultur, der Sitte, Sitt- 
lichkeit bringt er (der Staatssozialismus) in Zu- 
sammenhang mit den allgemeinen Fragen der 
Eigentumsordnung und Wirtschaftsorganisation, 
untersucht sie in ihrer Wechselwirkung mit Pro- 
duktion und der Verteilung, beurteilt sie nach dem 
Ergebnis dieser Untersuchung und nimmt wesent- 
lich mit danach seine Stellung zu ihnen und zu 
allen auf sie bezüglichen Fragen der Wirt- 
schaftspolitik und Rechtsordnung.“ 
Die Schwierigkeiten und Mängel, die 
in der Bezeichnung Staatssozialismus für sein 
System enthalten sind, fühlt Wagner selbst her- 
aus (Gr. 18 60 f): „Der Ausdruck selbst ist neu, 
hat sich aber, wie „Kathedersozialismus“, ja mehr 
als dieser, bei uns wie bei den andern Kultur- 
völkern rasch eingebürgert, um einen freilich den 
meisten Gegnern und manchen Anhängern nicht 
genügend klar umschlossenen sozialpolitischen Ge- 
dankenkreis zu bezeichnen. Ich halte an dem Aus- 
druck im Sinn des Vorausgehenden fest. Er ist 
auch schwer durch einen andern ähnlich geeigneten 
und namentlich ebenso erwünscht kurzen zu er- 
setzen. Ein Mangel, weil von vornherein Vor- 
urteile und Mißverständnisse leicht hervorrufend, 
ist freilich die ausschließliche Bezugnahme auf den 
Staat in dem Ausdruck. Festzuhalten ist um so 
mehr, daß hier nach der Regel a potiori fit de- 
nominatio verfahren ist. Der „Staat" bezeichnet 
hier alle andern öffentlichen Körper, namentlich 
die Verbände und Gemeinden, auch öffentliche 
Zweckverbände mit; ferner der „Staat“ im Wort 
„Staatssozialismus“ kommt nicht nur als die,Ge- 
meinwirtschaft“, welche unmittelbar (wie auch die 
Gemeinde usw.) Wirtschaftsaufgaben, auch ma- 
terielle (z. B. Verkehrswesen), übernimmt, sondern 
auch als der Faktor für Aus= und Fortbildung 
wie jeder so auch der privatwirtschaftlichen Rechts- 
ordnung bei entwickelten Kulturvölkern in Be- 
tracht. „Staatssozialismus“" schließt daher begriff- 
lich nicht den Gedanken der Übertragung der 
gesamten Produktion und Verteilung auf den 
Staat in sich und besagt ebensowenig den grund- 
sätzlichen Ausschluß des privatwirtschaftlichen Sy- 
stems aus der Volkswirtschaft. Wohl aber mag 
der Ausdruck passend gleich auf die Aufgabe der 
Reglung, Normierung der ganzen wirtschaftlichen 
Rechtsordnung, auch derjenigen für den privat- 
wirtschaftlichen Verkehr, namentlich durch den 
Staat und im ssozialen“ Interesse hindeuten. In 
besondern Fällen muß man sich genauerer Be- 
schreibungen und Umgrenzungen bedienen, hier und 
da auch statt von „Staatssozialismus' von „Kom- 
munalsozialismus“ und ähnlichem sprechen.“ 
Wagner sieht übrigens im Staatssozialismus 
nicht bloß ein gedankenmäßiges, theoretisches Sy-
	        
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