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gesetzmäßigen Ausübung von Stimmrechten; der
Schutz der persönlichen Freiheitssphäre gegen Ver-
bote oder Auferlegung persönlicher Dienste; der
Schutz gegen die gesetzwidrige Versagung der Er-
teilung oder die gesetzwidrige Entziehung von
Vermögensrechten. Das Nähere über die Zustän-
digkeit des Verwaltungsgerichtshofs ergibt das
Gesetz vom 22. Okt. 1875, indem es diejenigen
Angelegenheiten aufzählt, für welche der Gerichts-
hof nicht zuständig ist. Zur Einleitung des Ver-
fahrens vor ihm bedarf es einer Beschwerde des
verletzten Teils innerhalb 60 Tagen nach Zu-
stellung der anzufechtenden Entscheidung. Über die
Beschwerde wird schriftliche Erklärung der be-
langten Verwaltungsbehörde eingeholt, erforder-
lichenfalls weiterer Schriftwechsel veranlaßt und
dann in eine öffentliche mündliche Verhandlung
eingetreten. Jedoch kann von der letzteren auf
Grund des Gesetzes vom 21. Sept. 1905 — das
auch sonst noch verschiedene Vereinfachungen des
Verfahrens ermöglicht — abgesehen werden, wenn
die Parteien damit einverstanden sind. Wird eine
angefochtene Entscheidung wegen materieller Gesetz-
widrigkeit vom Verwaltungsgerichtshof kassiert,
so haben die Verwaltungsbehörden die weiteren
Verfügungen zu treffen, bei denen sie an die in dem
Erkenntnis des Gerichtshofs ausgesprochene
Rechtsanschauung gebunden sind. Wird eine Be-
schwerde als materiell unbegründet abgewiesen, so
kann dem Beschwerdeführer neben dem Kostenersatz
auch eine Mutwillensstrafe auferlegt werden. Neben
dem Verwaltungsgerichtshof übt das Reichsgericht
in gewissen Fällen eine Spezialverwaltungsgerichts-
barkeit aus, insofern es sich um den Schutz des den
Ländern eingeräumten Selbstverwaltungsrechts
gewisser Angelegenheiten und um den Schutz der
durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte
handelt. Zu den Angelegenheiten der zweiten Art
gehören u. a. Beschützung der Glaubens- und Ge-
wissensfreiheit, die Auswanderungsfreiheit, die
freie Berufswahl, Schutz des Hausrechts, Errich-
tung von Unterrichts= und Erziehungsanstalten,
Bildung von Vereinen, Veranstaltung von Ver-
sammlungen. Endlich ist das Reichsgericht auch
die zuständige Behörde für Kompetenzkonflikte
zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden sowie
zwischen einer Landesvertretung (Landesausschuß)
und dem Ministerium. Die Einleitung des Ver-
sahrens vor dem Reichsgericht setzt, je nachdem es
sich um Verletzung politischer Rechte oder n)
Geltendmachung eines Anspruchs handelt, Be-
schwerde oder Klage voraus. Das Verfahren selbst
ähnelt dem vor dem Verwaltungsgerichtshof.
Literatur. Laband, Staatsrecht des Deutschen
Reichs (*1511 ff); v. Sarwey, Das öffentl. Recht
u. die Verwaltungsrechtspflege (1887); Stengels
Wörterbuch des deutschen Staats= u. Verwaltungs-
rechts, hrsg. von Fleischmann (21911 ff); Stier-
Somlo, Jahrbuch des Verwaltungsrechts (seit
1906); O. Mayer, Deutsches Verwaltungerecht
(2 Bde, 1896); Georg Meyer. Dochow, Lehrbuch
des deutschen Verwaltungerechts (21910); L. Spie-
Vico.
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gel, Die Verwaltungsrechtswissenschaft; Beiträge
zur Systematik u. Methodik der Rechtswissenschaften
(1909); Kunze, Das Verwaltungsstreitverfahren
(2. Abt., 1908); Marquardsen, Handbuch des
öffentlichen Rechts (4 Bde, 1883 ff; bes. Abschn.
Allg. Verwaltungsrechte von Sarwey in Bd I,
Halbbd 2). lSchmedding.]
Vico, Giambattista, hervorragender ita-
lienischer Philosoph, der Begründer der neueren
Sozial= und Geschichtsphilosophie (1668/17438).
Vico wurde geboren zu Neapel den 23. Juni
1668 in einer wenig bemittelten kleinen Buch-
händlerfamilie. Sein Lebensgang war dem
äußern Verlauf nach ein wenig glücklicher; der
schwere Druck materieller Mißverhältnisse blieb
seit seiner ersten Erziehung in einem echt christ-
lichen Elternhaus für die volle Entfaltung seines
genialen Geistes ein Hemmnis, dessen Spuren sich
nie ganz verloren. Aus dem ersten philosophischen
Unterricht der Jesuiten Antonio Balzo, eines
Nominalisten, und Ricci, eines Realisten im Sinn
Platos, stammt der Grundzug seiner Platonischen
Denkweise, die stets auf die Ergründung der
Synthese des Weltganzen und die Auffindung der
in ihm sich auswirkenden Ideen gerichtet war.
Nach kurzen juristischen Studien an der Universität
Neapel zwang ihn Not der Familie, eine Haus-
lehrerstelle bei den Neffen des als Jurist gefeierten
Bischofs von Ischia, Johann B. de la Rocca,
auf dessen Landgut Valtolla zu übernehmen, eine
Stellung, die ihm freilich die Gelegenheit und die
Mittel bot, seine juridischen Studien durch um-
fassende Lektüre philosophischer und theologischer
Werke (Gassendi, Descartes, Locke, vor allem
Grotius und Leibniz) zu vertiefen und philologi-
schen Untersuchungen, die er liebte, und literarischen
Versuchen sich hinzugeben. In Neapel erregte bald
seine pathetische, dem Zeitgeschmack angepaßte
Beredsamkeit die öffentliche Aufmerksamkeit, nicht
zu seinem Vorteil, da er immer wieder durch An-
fertigung von Lobreden und Gelegenheitsdichtungen
von den höheren Studien abgezogen wurde, ohne
zur Ruhe einer gesicherten Existenz zu gelangen.
Zwar erlangte er 1697 an der Universität den
schmalbesoldeten Lehrstuhl der Rhetorik, aber alle
Bemühungen um eine besser besoldete Professur
der Jurisprudenz scheiterten. Häusliche Verhält-
nisse und eine zahlreiche Familie zwangen ihn bis
ins Alter zum harten Kampf um das töägliche
Brot.
Gegen Ende des Jahres 1725 ließ er zu Neopel
ein kleines Buch erscheinen unter dem Titel: Cin-
duc libri di Giambattista Vico de'’ principj
di una scienza nuova Tintorno alla com-
mune natura delle nazioni, per le quali si
ritruovano altre principj del diritto naturale
delle genti. Dasselbe enthielt die Prinzipien
einer neuen Wissenschaftslehre über die gemein-
some Natur der Völker auf naturrechtlicher Grund-
lage; es bot die erste Geschichtsphilosophie im
heutigen Sinn. Das dem späteren Papst Kle-