Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

857 
mens XII. gewidmete Buch fand in den carte- 
sianisch-philosophischen wie in den jansenistisch- 
theologischen Kreisen seiner Umgebung solchen 
Widerspruch, daß es als religionsfeindlich nicht 
nur in Neapel (Damiano Romano), sondern bis 
in die Acta eruditorum zu Leipzig denunziert 
wurde — Anklagen, die noch 1826 von Colangelo 
vor der neapolitanischen Zensur erneuert werden 
konnten. Die Anklagen trafen den unglücklichen, 
durch Krankheit und Not tiefgebeugten Mann 
schwer, vermochten ihn aber an seinem Werk nicht 
irre zu machen, dessen Bedeutung auch wenige 
einsichtsvolle Freunde, wie der Rechtslehrer Gra- 
vina u. a., erkannten. Vico konnte noch eine 
Neubearbeitung seines Werkes 1730 selbst vor- 
nehmen; an der Verstümmelung der Ausgabe von 
1744 trägt er keine Schuld. Die von ihm in den 
letzten Krankheitsjahren zu dieser Ausgabe seinem 
Sohn Gennaro diktierten Noten hat dieser an 
Stellen, die ihm dazu gut schienen, einfach in den 
Text von 1730 eingeschoben und so jene Verwir- 
rung hervorgerufen, welche dem Andenken seines 
Vaters so viel geschadet hat. Vico war in den 
letzten Lebensjahren an einem sehr schmerzlichen 
Halsgeschwür erkrankt, welches ihm die Lehrtätig- 
keit unmöglich machte und seine bedrängte Lage 
noch steigerte. Er starb am 20. Jan. 1744, nach- 
dem er seiner durch die Erhebung zum Reichs- 
historiographen durch König Karl endlich gebesserten 
Lebenslage kaum froh geworden. Selbst seine 
Grabstätte blieb lange unbekannt und verwahr- 
lost, bis ihm 1789 durch seine Söhne ein beschei- 
dener Grabstein gesetzt wurde. 
Wie entstand die Scienza nuova? In den 
Aufzeichnungen Vicos über sein Leben und seine 
Studier spricht sich ein zweifaches Streben aus, 
einmal sein Hang zu einer nie sich genügenden, 
möglichst polyhistorischen Bildung, dann das im 
Anfang vvielleicht unbewußte Aufsuchen einer Zweck- 
beziehung zu seinen juridischen Anschauungen. 
Seine ungeteilte Bewunderung besitzen Tacitus 
und Plato, von denen der erste „mit unvergleich- 
lichem metaphysischen Takt“ den Menschen be- 
trachtet, „wie er ist“, der letztere, „wie er sein 
soll“. Am liebsten kehrt er stets zu Homer und 
Dante zurück, denen er Grotius und Leibniz, vor 
allem Plato, später noch Aristoteles beigesellt. 
Seine Studienweise, stets die Originale, weniger 
die Kommentare und Kritiken zu lesen, bestärkte 
ihn in der Freiheit und Unabhängigkeit des Ur- 
teilens, zumal in seinem nächsten Studienziel, der 
Rechtsbildung eine lebensvollere Grundlage, grö- 
ßeren Gehalt und Bedeutung zu geben. So kam 
er früh zu der Überzeugung, alles Rechts= und 
Gesetzeswesen sei nur ein Moment in der sozialen 
Entwicklung des Menschen, dessen geschichtliche 
Entwicklung überhaupt erst auf Grund der so- 
zialen Tatsachen richtig erkannt und aus der un- 
übersehbaren Menge der historischen Denkmäler, 
der Sprache, der Mythologie, der Altertumskunde 
schlechthinerst geschaffen, neu erhoben werden müsse. 
Vico. 
  
858 
Unterschied sich Vico schon durch diese Auffassung 
von Recht und Geschichte von dem öden Formalis- 
mus des Wissenschaftswesens seiner Umgebung, so 
brach sich bald bei ihm ein noch bedeutsamerer 
Gegensatz in einer Art neuer Kritik Bahn, die sich 
gegen den das damalige Studienwesen in Italien 
beherrschenden Cartesianismus richtete. Vico 
stellte gegen die analytische, das Wissen in seine 
einzelnen Zweige und Disziplinen rationalistisch 
auflösende Methode die Synthese alles Wissens in 
der Einheit der Philosophie und Geschichte, in der 
Harmonie von Recht, Sitte, Religion. In der 
1708 vor Kardinal Grimani gehaltenen Rede 
De nostri temporis studiorum ratione er- 
klärte er, die moderne Welt habe vor der antiken 
den Vorzug des erweiterten Gesichtskreises infolge 
der Entdeckungen; der antiken Welt aber verbleibe 
der Vorzug der innern Durchdringung und syste- 
matischen Gestaltung, der erst neu zurückgewonnen 
werden müsse. Trotz seiner Gegensätzlichkeit gegen 
die vordringendecartesianische Studienreform sprach 
Vico ihr einen gewissen Wert nicht ab. „Wir ver- 
danken Cartesius“, sagt er, „die Wiederbelebung 
des Individualsinnes als der Norm der Wahrheit 
und die Unterwerfung des Denkens unter die 
Methode“; allein die ausschließliche Berechtigung 
des Individualsinnes wie der „geometrischen“ 
Methode weist Vico ab. Die rechte Pflege der 
Wissenschaft erfordere als doppeltes Kriterium die 
Verbindung des Individualsinnes mit dem Ge- 
meinsinn. 
In den Schriften Vicos bis zum Jahr 1725, 
wo sein Hauptwerk erschien, tritt seine Eigenart 
immer schärfer hervor, namentlich in seinen Rechts- 
und Sozialanschauungen. In der Schrift De 
antiquissima Italorum sapientia ex linguae 
latinune originibus eruenda (1710) griff er 
nochmals auf die Bekämpfung des Cartesius zu- 
rück, diesmal des vielgepriesenen cartesianischen 
Zweifels, der so wenig neu sei, selbst in seiner 
jetzigen Formulierung, daß schon Plautus ihn in 
der antik-klassischen Literatur wie Augustinus in 
der christlichen kenne; auf Cartesius falle freilich 
der große Fehler, die alte Lehre an die unrechteste 
Stelle, an das Tor der Philosophie gesetzt zu 
haben. Der Versuch Vicos, die altitalische Weis- 
heit aus lateinischen Etymologien zu erklären, 
verliert sich in metaphysische und sprachliche Er- 
örterungen, letztere oft der seltsamsten Art, und 
der Versuch, die Entwicklung des bürgerlichen 
römischen Rechts aus den Revolutionen und der 
Regierungspolitik zu deuten, bleibt meist auf das 
Tatsächliche beschränkt. Erst das erneute Studium 
der völkerrechtlichen Ideen Hugo Grotius' und der 
Entwicklungslehre Leibniz' scheint seinen Arbeiten 
die neue grundlegende Idee aller geschichtlichen 
Entwicklung eingeschärft zu haben; rühmt er doch 
an Grotius dessen Verknüpfung des Völkerrechts 
mit der Philosophie und der Theologie, mit der 
Geschichte wahrer oder sagenhafter Tatsachen und 
mit der Weisheit der Sprachenkunde.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.