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mens XII. gewidmete Buch fand in den carte-
sianisch-philosophischen wie in den jansenistisch-
theologischen Kreisen seiner Umgebung solchen
Widerspruch, daß es als religionsfeindlich nicht
nur in Neapel (Damiano Romano), sondern bis
in die Acta eruditorum zu Leipzig denunziert
wurde — Anklagen, die noch 1826 von Colangelo
vor der neapolitanischen Zensur erneuert werden
konnten. Die Anklagen trafen den unglücklichen,
durch Krankheit und Not tiefgebeugten Mann
schwer, vermochten ihn aber an seinem Werk nicht
irre zu machen, dessen Bedeutung auch wenige
einsichtsvolle Freunde, wie der Rechtslehrer Gra-
vina u. a., erkannten. Vico konnte noch eine
Neubearbeitung seines Werkes 1730 selbst vor-
nehmen; an der Verstümmelung der Ausgabe von
1744 trägt er keine Schuld. Die von ihm in den
letzten Krankheitsjahren zu dieser Ausgabe seinem
Sohn Gennaro diktierten Noten hat dieser an
Stellen, die ihm dazu gut schienen, einfach in den
Text von 1730 eingeschoben und so jene Verwir-
rung hervorgerufen, welche dem Andenken seines
Vaters so viel geschadet hat. Vico war in den
letzten Lebensjahren an einem sehr schmerzlichen
Halsgeschwür erkrankt, welches ihm die Lehrtätig-
keit unmöglich machte und seine bedrängte Lage
noch steigerte. Er starb am 20. Jan. 1744, nach-
dem er seiner durch die Erhebung zum Reichs-
historiographen durch König Karl endlich gebesserten
Lebenslage kaum froh geworden. Selbst seine
Grabstätte blieb lange unbekannt und verwahr-
lost, bis ihm 1789 durch seine Söhne ein beschei-
dener Grabstein gesetzt wurde.
Wie entstand die Scienza nuova? In den
Aufzeichnungen Vicos über sein Leben und seine
Studier spricht sich ein zweifaches Streben aus,
einmal sein Hang zu einer nie sich genügenden,
möglichst polyhistorischen Bildung, dann das im
Anfang vvielleicht unbewußte Aufsuchen einer Zweck-
beziehung zu seinen juridischen Anschauungen.
Seine ungeteilte Bewunderung besitzen Tacitus
und Plato, von denen der erste „mit unvergleich-
lichem metaphysischen Takt“ den Menschen be-
trachtet, „wie er ist“, der letztere, „wie er sein
soll“. Am liebsten kehrt er stets zu Homer und
Dante zurück, denen er Grotius und Leibniz, vor
allem Plato, später noch Aristoteles beigesellt.
Seine Studienweise, stets die Originale, weniger
die Kommentare und Kritiken zu lesen, bestärkte
ihn in der Freiheit und Unabhängigkeit des Ur-
teilens, zumal in seinem nächsten Studienziel, der
Rechtsbildung eine lebensvollere Grundlage, grö-
ßeren Gehalt und Bedeutung zu geben. So kam
er früh zu der Überzeugung, alles Rechts= und
Gesetzeswesen sei nur ein Moment in der sozialen
Entwicklung des Menschen, dessen geschichtliche
Entwicklung überhaupt erst auf Grund der so-
zialen Tatsachen richtig erkannt und aus der un-
übersehbaren Menge der historischen Denkmäler,
der Sprache, der Mythologie, der Altertumskunde
schlechthinerst geschaffen, neu erhoben werden müsse.
Vico.
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Unterschied sich Vico schon durch diese Auffassung
von Recht und Geschichte von dem öden Formalis-
mus des Wissenschaftswesens seiner Umgebung, so
brach sich bald bei ihm ein noch bedeutsamerer
Gegensatz in einer Art neuer Kritik Bahn, die sich
gegen den das damalige Studienwesen in Italien
beherrschenden Cartesianismus richtete. Vico
stellte gegen die analytische, das Wissen in seine
einzelnen Zweige und Disziplinen rationalistisch
auflösende Methode die Synthese alles Wissens in
der Einheit der Philosophie und Geschichte, in der
Harmonie von Recht, Sitte, Religion. In der
1708 vor Kardinal Grimani gehaltenen Rede
De nostri temporis studiorum ratione er-
klärte er, die moderne Welt habe vor der antiken
den Vorzug des erweiterten Gesichtskreises infolge
der Entdeckungen; der antiken Welt aber verbleibe
der Vorzug der innern Durchdringung und syste-
matischen Gestaltung, der erst neu zurückgewonnen
werden müsse. Trotz seiner Gegensätzlichkeit gegen
die vordringendecartesianische Studienreform sprach
Vico ihr einen gewissen Wert nicht ab. „Wir ver-
danken Cartesius“, sagt er, „die Wiederbelebung
des Individualsinnes als der Norm der Wahrheit
und die Unterwerfung des Denkens unter die
Methode“; allein die ausschließliche Berechtigung
des Individualsinnes wie der „geometrischen“
Methode weist Vico ab. Die rechte Pflege der
Wissenschaft erfordere als doppeltes Kriterium die
Verbindung des Individualsinnes mit dem Ge-
meinsinn.
In den Schriften Vicos bis zum Jahr 1725,
wo sein Hauptwerk erschien, tritt seine Eigenart
immer schärfer hervor, namentlich in seinen Rechts-
und Sozialanschauungen. In der Schrift De
antiquissima Italorum sapientia ex linguae
latinune originibus eruenda (1710) griff er
nochmals auf die Bekämpfung des Cartesius zu-
rück, diesmal des vielgepriesenen cartesianischen
Zweifels, der so wenig neu sei, selbst in seiner
jetzigen Formulierung, daß schon Plautus ihn in
der antik-klassischen Literatur wie Augustinus in
der christlichen kenne; auf Cartesius falle freilich
der große Fehler, die alte Lehre an die unrechteste
Stelle, an das Tor der Philosophie gesetzt zu
haben. Der Versuch Vicos, die altitalische Weis-
heit aus lateinischen Etymologien zu erklären,
verliert sich in metaphysische und sprachliche Er-
örterungen, letztere oft der seltsamsten Art, und
der Versuch, die Entwicklung des bürgerlichen
römischen Rechts aus den Revolutionen und der
Regierungspolitik zu deuten, bleibt meist auf das
Tatsächliche beschränkt. Erst das erneute Studium
der völkerrechtlichen Ideen Hugo Grotius' und der
Entwicklungslehre Leibniz' scheint seinen Arbeiten
die neue grundlegende Idee aller geschichtlichen
Entwicklung eingeschärft zu haben; rühmt er doch
an Grotius dessen Verknüpfung des Völkerrechts
mit der Philosophie und der Theologie, mit der
Geschichte wahrer oder sagenhafter Tatsachen und
mit der Weisheit der Sprachenkunde.