Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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eines geben, zu dem er nicht wenigstens einmal 
mit der ganzen Entschiedenheit, die seiner kraft- 
vollen Persönlichkeit und geschlossenen Weltan- 
schauung entsprang, Stellung genommen hätte. 
Vogelsang ist der Theoretiker des christlichen So- 
zialismus. Auf der Wirtschaftsethik der Scholastik, 
auf der Staats= und Gesellschaftslehre der Ro- 
mantiker, vor allem Adam Müllers fußend, hat 
er der kapitalistisch zersetzten antiethischen Wirt- 
schaftsordnung der Gegenwart die Idee einer 
organisch aufgebauten, durch ethische Impulse zu- 
sammengehaltenen Gesellschaft gegenübergestellt. 
Mit mehr Berechtigung, als Dietzel in Rodbertus 
den Sozialisten der organischen Staatsidee sieht, 
darf man Vogelsang den Sozialisten der organi- 
schen Gesellschaftsauffassung nennen. Vogelsang 
nimmt den Sozialismus als das Programm der 
geordneten Volkswirtschaft gegenüber der anarchi- 
schen Wirtschafts= und Lebensform für sich in 
Anspruch. In bewußter ÜUbereinstimmung mit den 
wissenschaftlichen Führern der Sozialdemokratie 
und mit kaum minderer Schärfe als diese fällt er 
sein Vernichtungsurteil über die kapitalistische 
Wirtschaftsform. Sie ist ihm nicht wie den ent- 
wicklungsgeschichtlich denkenden sozialistischen und 
liberalen Theoretikern ein Durchgangsstadium 
höherer Ordnung von einer sozial tiefer stehenden 
Stufe zu einer voller entwickelten Wirtschafts- 
sorm, sondern ein Fehltritt oder eine habituelle 
Schwäche der menschlichen Gesellschaft, die in ihr 
den natürlichen Daseinszweck vergessend, von dem 
Idol Geld geblendet, dem Abgrund entgegen- 
taumelt. Nur durch die Wiederherstellung der christ- 
lichen Gesellschaftsordnung ist sie noch zu retten. 
Eine unvollständige Erfassung von Vogelsangs 
Gedanken glaubte hierin die Forderung nach einer 
Wiederherstellung der mittelalterlichen Wirtschafts- 
sorm, Naturalwirtschaft und Lohnarbeit mit Hand- 
betrieb erkennen zu sollen. Doch Vogelsang ist es, 
wie er auch wiederholt ausdrücklich erklärt, nicht 
um eine mechanische epigonenhafte Nachschöpfung 
ausgelebter Wirtschaftsformen zu tun. Sein Pro- 
gramm entspringt den Grundgedanken der reali- 
stischen Philosophie. Die natürliche Ordnung, die 
im Schöpfungswillen beschlossen liegt, erstreckt sich 
demnach in gleicher Weise auf die organische und 
die anorganische Natur, auf Individuum und Ge- 
sellschaft. Aus der in jede geschöpfliche Ordnung 
hineingelegten Naturbestimmung entspringt ihre 
Seinsberechtigung, ihr Entwicklungsziel. Der 
Mensch von Natur aus für die Gesellschaft ange- 
legt und in die Gesellschaft hineingeboren, sieht in 
der Gesellschaft die einzig mögliche Form, in der 
er seiner Bestimmung, die individueller Natur ist, 
nachgehen kann. Aus diesem natürlichen Gesell- 
schaftstrieb entwickeln sich in steigender Mannigfal= 
tigkeit und in immer weiteren Kreisen Gesellschafts- 
formen, die ohne individuelle bewußte Willensbil- 
dung naturhaft aus den gleichartigen individuellen 
Interessen hervorgetrieben sind. Sie sind also 
nicht der individuellen Willkür entsprungen, son- 
Vogelsang. 
  
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dern unter dem Druck einer höheren Notwendig- 
keit geworden, aus ihr ihre Seinsberechtigung 
schöpfend. Als umfassendste dieser Gesellschafts- 
ordnungen erscheint der Staat, den Vogelsang 
gern mit Adam Müller als „die innige Verbin- 
dung der gesamten physischen und geistigen Be- 
dürfnisse, des gesamten innern und äußern Lebens 
einer Nation zu einem großen energischen unend- 
lich bewegten und lebendigen Ganzen“ definiert, 
worunter natürlich der Idealtypus des Staats, 
von dem die gegenwärtige kapitalistisch-bureau- 
kratische Staatsform weiter denn je entfernt ist, 
zu denken ist. Die societas perkfecta ist, abge- 
sehen von ihrer naturrechtlichen, daher göttlichen 
Grundlage, schon deswegen die christliche Gesell- 
schaftsordnung, weil erst sie der größten Menschen- 
zahl die Erreichung ihrer natürlichen Bestimmung, 
die persönliche Vervollkommnung ermöglicht. Eine 
Gesellschaftsordnung, die gleich der der Gegen- 
wart die Befolgung der christlichen Gerechtigkeit 
aus einer natürlichen, von allen erreichbaren Tu- 
gend zur Vollkommenheit weniger Auserwählter 
macht, ist auf die Dauer mit dem Bestand des 
Christentums nicht zu vereinen. Die kapitalistisch 
wirtschaftende Gesellschaft ist in ihren Grundlagen 
ungesund. Ihre geradlinige Fortentwicklung führt 
in stetig beschleunigter Auflösung zum Kultur- 
zusammenbruch. Vorbilder hierfür sind die Welt- 
reiche der Antike. Das kapitalistische Wirtschafts- 
prinzip hat den Menschen aus dem Mittelpunkt 
des Erwerbslebens heraus und die Ware oder 
ihren Repräsentanten, das Geld, in diesen Mittel- 
punkt hineingestellt. Dieses neue Kraftzentrum 
aller besitzt keine natürlich gestaltende, höheren 
Zwecken dienende Seele. Es zersplittert, atomisiert 
die alten Gesellschaftsordnungen, die, auf seelischen 
Zusammenhängen beruhend, in natürlicher Aus- 
gleichung der Freiheits- und Herrschaftsprinzipien 
den Rahmen für organische Kulturentwicklung 
boten. An Stelle dessen setzt es die durch das 
Streben nach dem größtmöglichen Gewinn durch 
die Konkurrenz der individuellen Egoismen unter 
der tyrannischen Herrschaft des Geldes disoziierten 
Menschenansammlungen des modernen Groß- 
staats, der Großstadt, des Großbetriebs. Auf alle 
Gesellschaftsformen erstreckt sich diese auflösende 
Tätigkeit, der einzelne ist ihr gegenüber machtlos. 
Die Familie löst sich unter der durch harten wirt- 
schaftlichen Zwang gebotenen Frauenarbeit; die 
Sorge für die Kinder, das größte nicht lösbare 
Problem für den kapitalistischen Staat, wird 
gegenwärtig durch gänzlich unzulängliche gesell- 
chaftliche Einrichtungen nur teilweise übernommen, 
einen Quell der schlimmsten sittlichen Zersetzung 
der kommenden Generationen offen lassend. Die 
Auflösung der auf Freiheit und Gleichberechtigung 
beruhenden wirtschaftlichen Verbände hat ein zahl- 
loses, physisch und geistig verkümmerndes Pro- 
letariat einer kleinen, durch die Maßlosigkeit des 
Besitzgenusses sich selbst aufreibenden Herrenkaste 
gegenübergestellt. Der Staat, diese höchste organi- 
—
	        
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