Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sche Lebensgesamtheit, ist für die große Masse der 
Feind, für die Wenigen ein Werkzeug ihrer auf 
Geldbesitz gegründeten Herrschaft geworden. Um 
diesen drohenden Gefahren vorzubeugen, um das 
Leben der einzelnen wie der gesamten Gesellschaft 
wieder der auf Sittlichkeit gegründeten Kultur 
zurückzugewinnen, bedarf es einer Reform aus den 
Grundideen der Gesellschaftsordnung. Die Pal- 
liativmittel der modernen Sozialreform sind kaum 
geeignet, den drohenden Zusammenbruch hinaus- 
zuschieben, geschweige daß sich von ihnen positive, 
dem Neubau der Gesellschaft förderliche Wirkung 
erwarten ließe. Alle Arbeiterschutzgesetzgebung, so 
verdienstvoll sie in Einzelwirkungen sein mag, 
kann dem Lohnarbeiter nicht eine gesicherte men- 
schenwürdige Existenz, noch weniger die Aussicht 
auf Aufstieg aus der Proletarierklasse in die der 
Produktionsleiter verschaffen. Die gesamte Schutz- 
und Meliorationspolitik für die heimische Land- 
wirtschaft führt diese nur immer tiefer in die 
Schuldsklaverei des mobilen Kapitals. Es gilt 
daher die Quelle der kapitalistischen Desorgani- 
sation zu verstopfen. Diese Quelle ist in letzter 
Linie die mit dem ausgehenden Mittelalter einge- 
tretene Erschlaffung der christlichen Grundideen 
im Gesellschaftsbewußtsein. Diese hat dem römisch- 
rechtlichen Privateigentumsbegriff, der im Gegen- 
satz zur Idee des christlich germanischen Sonder- 
eigens eine volle, durch keine sittliche Bindung 
beschränkte Herrschaft des einzelnen über die Sache 
fordert, Zugang verschafft. Sie hat der Arbeit die 
Ehre genommen, indem sie aus der pflichtgemäßen 
Ausübung eines öffentlichen Amts zum Wohl der 
Gesellschaft eine nur durch das persönliche Ge- 
winnstreben gebotene und geregelte Last machte. 
Sie hat in konsequenter Ausbildung dieses Ge- 
winnstrebens endlich sich über das von der Kirche 
wiederholt eingeschärfte Zinsverbot hinweggesetzt 
und hiermit die Periode der Kreditwirtschaft, der 
Geldherrschaft, der Mobilisierung aller persön- 
lichen und Sachwerte eingeleitet. 
Aus der Diagnose der Übel ergibt sich der 
Weg, den der Heilungsprozeß einzuschlagen hat: 
„Unserer Zeit kann nur geholfen werden, wenn es 
durch Zusammenwirken von Kirche und Staat 
gelingt, den desorganisierten und deshalb natür- 
lich in Fäulnis übergehenden Gesellschaftskörper 
wieder zu organisieren, neuzugliedern, so daß er 
wieder eine wohlgeordnete Gesellschaft bildet mit 
lebensvollen Organen für alle seine Funktionen.“ 
Die Reform kann allerdings nicht vom Staat, sie 
muß aus dem Schoß der Gesellschaft kommen, 
aber sich des Staats, indem sie ihn umwandelt, 
bedienen. Mit ihrem Abschluß hat „die Existenz- 
berechtigung des absoluten, nur durch bureaukratische 
Organe funktionierenden Beamtenstaats ihr Ende 
erreicht und die autonome, selbstverwaltende, reich- 
gegliederte Gesellschaft tritt wieder in ihr Recht". 
„Die ihre Angelegenheiten selbstverwaltenden auto- 
nomen Berufsgenossenschaften werden das Parla- 
ment der Zukunft sein“, politische, gesellschaftliche 
Vogelsang. 
  
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und wirtschaftliche Organisation müssen sich decken. 
Der Weg hierzu kann nur durch schrittweise Re- 
form gebahnt werden. Diese hat jedoch unbedingt 
nach einem wohlgeordneten, das ganze Ziel um- 
fassenden Plan und in der richtigen Reihenfolge 
der vorzunehmenden Schritte zu erfolgen. Zu- 
sammenhangslose Reformversuche verschlimmern 
das Ubel. Die wirtschaftlichen Vorbedingungen 
der neuen Gesellschaftsordnung sind die möglichste 
Zurückdrängung des Darlehenszinses und der 
Lohnarbeit, ihre Ersetzung durch die Einrichtung 
des geteilten Eigentums und der Gesellschafts- 
arbeit. In den einzelnen Produktionszweigen hat 
sich die Reform folgendermaßen zu gestalten. Für 
die Landwirtschaft ist mit Rücksicht auf den von 
den Grundlagen der andern Produktionszweige 
gänzlich verschiedenen Charakter von Grund und 
Boden ein eignes agrarisches Besitzrecht zu schaffen. 
Dasselbe umfaßt ein den bäuerlichen Verhältnissen 
entsprechendes, die landesüblichen Gewohnheiten 
berücksichtigendes Intestaterbrecht, die Schaffung 
von Erbgütern, ein Vorkaufsrecht der Anerben, 
Einschränkung der Belastungsmöglichkeit land- 
wirtschaftlicher Güter und Umwandlung der be- 
stehenden Belastung in unkündbare amortisable 
Rentenschulden, Schaffung eines agrarischen Exe- 
kutionsrechts, das in erster Linie Zwangsverwal- 
tung durch die Anerben vorsieht, auf jeden Fall 
aber die Verschleuderung des Besitzes unter dem 
Schätzwert und den Übergang in nicht bäuerliche 
Händeverhindert, Bildung von agrarischen Zwangs- 
genossenschaften, in deren Wirkungskreis zu fallen 
hätten: Organisation des Besitz= und Melio- 
rationskredits, des landwirtschaftlichen Versiche- 
rungswesens; Intervention bei Güterabtrennungen 
und Arrondierungen, Beaufsichtigung der Forst- 
kultur usw. Besonderes Gewicht ist darauf zu 
legen, daß allen Besitzübergängen der Ertragswert 
zugrunde gelegt werde. — Für das Kleingewerbe 
sind obligatorische Innungen, Handwerkskam- 
mern, Befähigungsnachweis zu fordern. Die 
Innungen, die Meister und Gesellen umfassen, 
haben die autonome Führung der Gewerbepolizei, 
die Schlichtung von Streitigkeiten innerhalb des 
Gewerbes, die Reglung der Produktionsbedin- 
gungen soweit nötig, die Ausübung der Waren- 
polizei zum Schutz der Konsumenten und gegen 
Schleuderkonkurrenz zu übernehmen. Der freien 
Vereinstätigkeit innerhalb der Innungen bleibt 
die Bildung von Produktiv= und Absatzgenossen= 
schaften der Handwerker, die Fürsorge für Be- 
chaffung des nötigen gewerblichen Kredits vorbe- 
halten. Die Hausindustrie darf nur bestehen 
bleiben, soweit sie landwirtschaftliches Nebenge- 
werbe ist; in ihren andern Vorkommen ist sie in 
das organisierte Kleingewerbe oder in die Groß- 
industrie überzuführen. Auch die Großindustrie 
ist korporativ zu organisieren, sowohl innerhalb 
des Betriebs, wo die „industrielle Familie“, die 
Beteiligung aller Arbeitenden an dem Reinertrag 
nach dem Maßstab des „gerechten Lohns“ anzu- 
—
	        
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