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streben ist, als auch national nach Betriebsarten.
Der Staat hat den produzierenden Ständen seinen
Schutz zu gewähren durch einen mäßigen Schutz-
zoll, der die Differenzen, die durch Ausschaltung
des Raubbaues an menschlicher Arbeitskraft und
an Bodenschätzen die heimische Wirtschaft belasten,
ausgleicht. Dieser Schutzzoll erhält aber erst Be-
rechtigung nach durchgeführter Sozialreform;
gegenwärtig ist er nicht „Schutz der nationalen
Arbeit, sondern Schutz der nationalen Ausbeu-
tung“.
III. Die vorstehende naturgemäß höchst lücken-
hafte Skizze von Vogelsangs sozialwirtschaftlichen
Anschauungen rückt ihn vielleicht für den über-
wiegend praktisch gestimmten Volkswirtschaftspoli-
tiker recht nahe an einige der modernen sozial-
reformatorischen Richtungen, vor allem an die sog.
Mittelstandsbewegung. An wenigen Punkten nur
scheint er über diese hinauszugehen, und vielleicht
wird man die Mäßigung, die er sich in seinem
Reformprogramm auferlegt, nicht ganz in Über-
einstimmung mit der radikalen Gesellschaftskritik
finden. Dies ist einerseits auf den von Vogel-
sang immer wieder betonten konservativen Cha-
rakter seines Programms, seine Abneigung gegen
alle radikale Gesetzesmacherei, seine tiefgegründete
Ehrfurcht vor allem natürlichen organischen Wachs-
tum zurückzuführen. Anderseits sah er sich auch in
den ihm nach Weltanschauung nahe verwandten
Kreisen noch einem weitgehenden Unverständnis für
die ihm evidenten Zusammenhänge von Christen-
tum und Wirtschaftsleben gegenüber, das ihn zu
einer gewissen Zurückhaltung drängen mußte. War
er doch wiederholt genötigt, mit den Männern der
Réforme sociale und der Löwener Schule seine
Klinge zu kreuzen, ja auch das Organ der ihm
wesentlich näher stehenden deutschen katholisch-
sozialreformatorischen Richtung, die von Bongartz
redigierten „Christlich-sozialen Blätter“, zwangen
ihn, da sie in einer Kontroverse über die Freiheit
der Arbeit für Périn gegen Vogelsang Stellung
nahmen, zu längerer Polemik. Vor allem aber ist
die wesentlich tiefere philosophisch und historisch
fundierte Grundlage Vogelsangs, die seinem Pro-
gramm doch in den Hauptlinien die eigne und
einzigartige Färbung gibt, nicht zu übersehen.
Vogelsang war ungeachtet seiner gründlichen, histo-
rischen und sozialwissenschaftlichen Bildung kein
Gelehrter im Schulsinn. Vielleicht brachte es die
Art seiner Arbeitstätigkeit, vielleicht ein Mangel
an systematischer Veranlagung mit sich, daß er in
den meisten Punkten ein durch Geist und Cha-
rakter bezwingender Anreger geblieben ist; der
gründlichere Ausbau seines wissenschaftlichen Le-
benswerks ist als höchst dankbare Aufgabe der
Nachwelt hinterblieben. Was aber Vogelsang über
die gesamte zeitgenössische, katholische sozialrefor-
matorische Bewegung hinaushebt, wofür ihm diese
zu nicht abzuschätzendem Dank verpflichtet ist, das
ist die Rettung und Neubelebung der in der mittel-
alterlichen christlichen Soziallehre gefundenen
Völkerrecht.
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Grundlagen jeglicher Gesellschaftspolitik; Grund-
lagen, die mit der hereinbrechenden kapitalistischen
Zeit außer Ubung gekommen und vergessen, in der
Gesellschaftslehre der Romantik blitzartig wieder
aufleuchteten, ohne breitere sofort sichtbare Wirkung
zu tun; die der heutige historische Spürsinn wohl
wieder ausgegraben hat, um sie in ein Museum
zu stellen, die aber Vogelsang ins volle flutende
Gesellschaftsleben gestellt hat als Sammelpunkt
für alle, die an der Wiederherstellung der christ-
lichen Gesellschaftsordnung unter dem Zeichen der
„immerwährenden Wissenschaft“ arbeiten wollen.
Literatur. Außer zahllosen größeren u. klei-
neren Abhandlungen in den von V. redigierten
Zeitschriften u. im „Vaterland“ sind selbständig im
Buchhandel erschienen: Die Grundbelastung u. Ent-
lastung (1879); Die Notwendigkeit einer neuen
Grundentlastung (1880); Gesammelte Aufsätze über
sozialpolit. u. verwandte Themata (1886); Vogel-
sang u. E. Schneider, Die materielle Lage des Ar-
beiterstands in Osterreich, Sonderabdruck (1884);
Die sozialen Lehren des Frhrn K. v. V., Grund-
züge einer christlichen Gesellschafts= u. Volkswirt-
schaftslehre, aus dem literar. Nachlaß zusammen-
gestellt von Dr Wiard Klopp, 1894 (zur kurzen
Orientierung am geeignetsten). (Nizzi.)
Völkerrecht. [Begriff und Wesen; Bezeich-
nung; Juristischer Charakter; Quellen; Kodifika=
tion; Geschichte.])
I. Begrif und Wesen.Völkerrecht (inter-
nationales Recht, Staatenrecht, ius gentium,
droit des gens, droit international usw.) ist
der Inbegriff der Normen, welche die Rechte und
Pflichten der Staaten in ihren Beziehungen zu-
einander regeln. Demnach setzt das Völkerrecht
voraus einmal die Koexistenz einer Mehrheit selb-
ständiger Staaten, die einander als gleichberechtigt
anerkennen, sodann eine Kultur= und Interessen-
gemeinschaft, die zu einheitlicher Rechtsüberzeugung
und zu dauerndem gegenseitigen Verkehr führen
(„Völkerrechtsgemeinschaft“).
Wie der Mensch mit Naturnotwendigkeit über
die Familie hinaus zu Gemeinde und Staat ge-
führt wird, so ist auch für die Staaten der Ge-
selligkeitstrieb ein Naturgesetz, in dem letztlich das
Völkerrecht seine Grundlage findet. Auf niederer
Kulturstufe wird allerdings die staatliche Organi-
sation hinreichen, um die materiellen wie geistigen
Bedürfnisse des einzelnen wie der Gesamtheit zu
befriedigen, wird der Verkehr mit andern Völkern
nur ein vorübergehender, der Erreichung eines
augenblicklichen Zwecks oder Gutes dienender sein.
Aber schon bald wird die durch diese Selbstgenüg-
samkeit (Autarkie) gegebene nationale Abschließung
durchbrochen, die Staaten und Völker sehen sich
mehr und mehr bei steigenden Bedürfnissen auf-
einander angewiesen, erkennen die mit Kultur und
Zivilisation wachsende gegenseitige materielle wie
geistige Abhängigkeit, suchen dauernde Verhält-
nisse zu begründen. An Stelle des nationalen
Egoismus tritt langsam das Bewußtsein der sich
ständig erweiternden internationalen Kultur= und