Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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streben ist, als auch national nach Betriebsarten. 
Der Staat hat den produzierenden Ständen seinen 
Schutz zu gewähren durch einen mäßigen Schutz- 
zoll, der die Differenzen, die durch Ausschaltung 
des Raubbaues an menschlicher Arbeitskraft und 
an Bodenschätzen die heimische Wirtschaft belasten, 
ausgleicht. Dieser Schutzzoll erhält aber erst Be- 
rechtigung nach durchgeführter Sozialreform; 
gegenwärtig ist er nicht „Schutz der nationalen 
Arbeit, sondern Schutz der nationalen Ausbeu- 
tung“. 
III. Die vorstehende naturgemäß höchst lücken- 
hafte Skizze von Vogelsangs sozialwirtschaftlichen 
Anschauungen rückt ihn vielleicht für den über- 
wiegend praktisch gestimmten Volkswirtschaftspoli- 
tiker recht nahe an einige der modernen sozial- 
reformatorischen Richtungen, vor allem an die sog. 
Mittelstandsbewegung. An wenigen Punkten nur 
scheint er über diese hinauszugehen, und vielleicht 
wird man die Mäßigung, die er sich in seinem 
Reformprogramm auferlegt, nicht ganz in Über- 
einstimmung mit der radikalen Gesellschaftskritik 
finden. Dies ist einerseits auf den von Vogel- 
sang immer wieder betonten konservativen Cha- 
rakter seines Programms, seine Abneigung gegen 
alle radikale Gesetzesmacherei, seine tiefgegründete 
Ehrfurcht vor allem natürlichen organischen Wachs- 
tum zurückzuführen. Anderseits sah er sich auch in 
den ihm nach Weltanschauung nahe verwandten 
Kreisen noch einem weitgehenden Unverständnis für 
die ihm evidenten Zusammenhänge von Christen- 
tum und Wirtschaftsleben gegenüber, das ihn zu 
einer gewissen Zurückhaltung drängen mußte. War 
er doch wiederholt genötigt, mit den Männern der 
Réforme sociale und der Löwener Schule seine 
Klinge zu kreuzen, ja auch das Organ der ihm 
wesentlich näher stehenden deutschen katholisch- 
sozialreformatorischen Richtung, die von Bongartz 
redigierten „Christlich-sozialen Blätter“, zwangen 
ihn, da sie in einer Kontroverse über die Freiheit 
der Arbeit für Périn gegen Vogelsang Stellung 
nahmen, zu längerer Polemik. Vor allem aber ist 
die wesentlich tiefere philosophisch und historisch 
fundierte Grundlage Vogelsangs, die seinem Pro- 
gramm doch in den Hauptlinien die eigne und 
einzigartige Färbung gibt, nicht zu übersehen. 
Vogelsang war ungeachtet seiner gründlichen, histo- 
rischen und sozialwissenschaftlichen Bildung kein 
Gelehrter im Schulsinn. Vielleicht brachte es die 
Art seiner Arbeitstätigkeit, vielleicht ein Mangel 
an systematischer Veranlagung mit sich, daß er in 
den meisten Punkten ein durch Geist und Cha- 
rakter bezwingender Anreger geblieben ist; der 
gründlichere Ausbau seines wissenschaftlichen Le- 
benswerks ist als höchst dankbare Aufgabe der 
Nachwelt hinterblieben. Was aber Vogelsang über 
die gesamte zeitgenössische, katholische sozialrefor- 
matorische Bewegung hinaushebt, wofür ihm diese 
zu nicht abzuschätzendem Dank verpflichtet ist, das 
ist die Rettung und Neubelebung der in der mittel- 
alterlichen christlichen Soziallehre gefundenen 
Völkerrecht. 
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Grundlagen jeglicher Gesellschaftspolitik; Grund- 
lagen, die mit der hereinbrechenden kapitalistischen 
Zeit außer Ubung gekommen und vergessen, in der 
Gesellschaftslehre der Romantik blitzartig wieder 
aufleuchteten, ohne breitere sofort sichtbare Wirkung 
zu tun; die der heutige historische Spürsinn wohl 
wieder ausgegraben hat, um sie in ein Museum 
zu stellen, die aber Vogelsang ins volle flutende 
Gesellschaftsleben gestellt hat als Sammelpunkt 
für alle, die an der Wiederherstellung der christ- 
lichen Gesellschaftsordnung unter dem Zeichen der 
„immerwährenden Wissenschaft“ arbeiten wollen. 
Literatur. Außer zahllosen größeren u. klei- 
neren Abhandlungen in den von V. redigierten 
Zeitschriften u. im „Vaterland“ sind selbständig im 
Buchhandel erschienen: Die Grundbelastung u. Ent- 
lastung (1879); Die Notwendigkeit einer neuen 
Grundentlastung (1880); Gesammelte Aufsätze über 
sozialpolit. u. verwandte Themata (1886); Vogel- 
sang u. E. Schneider, Die materielle Lage des Ar- 
beiterstands in Osterreich, Sonderabdruck (1884); 
Die sozialen Lehren des Frhrn K. v. V., Grund- 
züge einer christlichen Gesellschafts= u. Volkswirt- 
schaftslehre, aus dem literar. Nachlaß zusammen- 
gestellt von Dr Wiard Klopp, 1894 (zur kurzen 
Orientierung am geeignetsten). (Nizzi.) 
Völkerrecht. [Begriff und Wesen; Bezeich- 
nung; Juristischer Charakter; Quellen; Kodifika= 
tion; Geschichte.]) 
I. Begrif und Wesen.Völkerrecht (inter- 
nationales Recht, Staatenrecht, ius gentium, 
droit des gens, droit international usw.) ist 
der Inbegriff der Normen, welche die Rechte und 
Pflichten der Staaten in ihren Beziehungen zu- 
einander regeln. Demnach setzt das Völkerrecht 
voraus einmal die Koexistenz einer Mehrheit selb- 
ständiger Staaten, die einander als gleichberechtigt 
anerkennen, sodann eine Kultur= und Interessen- 
gemeinschaft, die zu einheitlicher Rechtsüberzeugung 
und zu dauerndem gegenseitigen Verkehr führen 
(„Völkerrechtsgemeinschaft“). 
Wie der Mensch mit Naturnotwendigkeit über 
die Familie hinaus zu Gemeinde und Staat ge- 
führt wird, so ist auch für die Staaten der Ge- 
selligkeitstrieb ein Naturgesetz, in dem letztlich das 
Völkerrecht seine Grundlage findet. Auf niederer 
Kulturstufe wird allerdings die staatliche Organi- 
sation hinreichen, um die materiellen wie geistigen 
Bedürfnisse des einzelnen wie der Gesamtheit zu 
befriedigen, wird der Verkehr mit andern Völkern 
nur ein vorübergehender, der Erreichung eines 
augenblicklichen Zwecks oder Gutes dienender sein. 
Aber schon bald wird die durch diese Selbstgenüg- 
samkeit (Autarkie) gegebene nationale Abschließung 
durchbrochen, die Staaten und Völker sehen sich 
mehr und mehr bei steigenden Bedürfnissen auf- 
einander angewiesen, erkennen die mit Kultur und 
Zivilisation wachsende gegenseitige materielle wie 
geistige Abhängigkeit, suchen dauernde Verhält- 
nisse zu begründen. An Stelle des nationalen 
Egoismus tritt langsam das Bewußtsein der sich 
ständig erweiternden internationalen Kultur= und 
  
 
	        
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