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Interessengemeinschaft. Gleichwohl gehen in dieser
Gemeinschaft die einzelnen Staaten nicht auf, ihre
politische Unabhängigkeit, Gleichheit und Freiheit
ist vielmehr die conditio sine qua non, ja wird
sogar erst durch jene Gemeinschaft voll und ganz
garantiert.
Die auf den genannten beiden Faktoren: wirt-
schaftliche und geistige Abhängigkeit, politische
Unabhängigkeit und Gleichheit der Staaten, be-
ruhende Gemeinschaft ist eine zunächst rein tat-
sächliche, wenn auch notwendige. Gleichwohl
zeigt sich schon früh das Bestreben, feste Grundsätze
und Regeln für den gegenseitigen Verkehr zur
Anerkennung zu bringen und ihm so eine sichere
Grundlage zu schaffen; mehr und mehr werden alle
Wechselbeziehungen rechtlichen Grundsätzen unter-
stellt, wird die tatsächliche Gemeinschaft zu einer
Rechtsgemeinschaft erhoben. Diese Grund-
sätze und Regeln knüpfen an durch Gerechtigkeit und
Billigkeit diktierte Ubungen, Gewohnheiten an,
die in letzter Linie auf den naturrechtlichen Satz
Suum cuique und den daraus abgeleiteten Pacta.
sunt servanda zurückgehen; durch die Anerken-
nung innerhalb jener Gemeinschaft werden sie zu
Rechtsätzen erhoben, das Völkerrecht wird posi-
tives Recht. Daneben erhalten sich Regeln für
den Verkehr der Staaten, die nicht als rechtlich
verpflichtend anerkannt sind, sondern als Sitte den
Forderungen der Höflichkeit, des freundlichen Ver-
hältnisses Rechnung tragen (comitas gentium).
Da das positive Völkerrecht sich geschichtlich auf
der Grundlage der christlichen Kultur und der ge-
meinsamen Interessen der christlichen Staaten
Europas entwickelt hat, wird es auch als das
„öffentliche europäische Recht“, droit
public de Il’Europe (Pariser Vertrag vom
30. März 1856, Art. 7 und 15), bezeichnet. Doch
beschränkt sich jene Rechtsgemeinschaft, die „Völker-
rechtsgemeinschaft“" (la cCommunauté du droit
des gens), schon längst nicht mehr auf Europa.
Zunächst waren es die Vereinigten Staaten von
Amerika, die 1783 der Gemeinschaft beitraten,
denen dann nach Losreißung vom Mutterland die
süd= und mittelamerikanischen Staaten folgten.
Die Völkerrechtsgemeinschaft umfaßt indes auch
nicht mehr bloß die christlichen Staaten. Nachdem
bereits durch den Pariser Vertrag von 1856 die
Türkei in das „europäische Konzert“ aufgenommen
war — gleichwohl wird die Türkei, wie sich aus
dem Fortbestehen der Kapitulationen (s. d. Art.)
ergibt, nicht als voll= und gleichberechtigtes Mit-
glied der Gemeinschaft angesehen —, ist neuerdings
Japan durch die die Konsulargerichtsbarkeit auf-
hebenden Verträge von 1894 bis 1896 der Völker-
rechtsgemeinschaft beigetreten. Voraussetzung für
den Beitritt ist, von der Anerkennung der übrigen
Staaten abgesehen, die Gewährleistung, die Re-
geln des Völkerrechts beachten zu wollen, was vor
allem die Einrichtung einer geordneten Gesetz-
gebung, Verwaltung und Rechtspflege verlangt.
Den noch nicht beigetretenen sog. halbzivilisierten
Völkerrecht.
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Staaten gegenüber haben die Rechtssätze des Völ-
kerrechts nur insoweit Geltung, als mit ihnen
Verträge, z. B. Schiffahrts-, Handels-, Freund-
schaftsverträge, geschlossen sind. In den hierdurch
geregelten Beziehungen sind diese Staaten auch
Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft, kommen
ihnen gegenüber die Völkerrechtsregeln als Ver-
tragsrecht zur Anwendung. Hierher gehören China,
Siam, Persien u. a. Vor allem sind es die Ver-
waltungsunionen, wie insbesondere der Weltpost-
verein, in denen diese Expansionstendenz der
Völkerrechtsgemeinschaft zum Ausdruck kommt.
In den sonstigen nicht vertragsmäßig geregelten
Beziehungen gegenüber den genannten Staaten
wie gegenüber den nichtzivilisierten Völkern kommt
das „natürliche Völkerrecht“ zur Anwendung,
d. h. die Grundsätze des Christentums, der Ge-
rechtigkeit und Billigkeit.
II. Bezeichnung. Bei den ersten wissenschaft-
lichen Untersuchungen über das Völkerrecht wurde
der römische Ausdruck ius gentium verwandt.
Dieser bezeichnet aber einmal das für alle Reichs-
bürger sowohl für cives als auch für pere-
grini geltende Reichsrecht im Gegensatz zu dem
nur für die ersteren geltenden jus civile, sodann
auch das allen Menschen und Nationen gemein-
same, bei allen Völkern in Anwendung stehende
Recht (so z. B. Cicero). Dagegen verband man
nur selten und, wie es scheint, allein in der ältesten
Zeit mit jener Bezeichnung den Gedanken an ein
den Verkehr der Staaten untereinander regelndes
Recht. Noch bei Grotius findet sich der über-
lieferte Ausdruck, wenn auch in dem Sinn eines
ius inter civitates. 1650 schlug der Engländer
Zouch die Bezeichnung ius inter gentes vor.
Bentham hat dann unter Verwerfung des gleich-
wohl herrschenden Ausdrucks ius gentium (droit
des gens, law of nations) das Völkerrecht
international law genannt, ein Ausdruck, der
bei den romanischen Nationen (droit inter-
national, diritto internazionale, derecho
internazional usw.) und den Nordamerikanern
allgemein, bei den Engländern überwiegend erst
in neuerer Zeit Aufnahme fand. Die jüngere fran-
zösische Rechtswissenschaft versteht aber unter droit,
international nicht allein das Völkerrecht, son-
dern auch das Internationale Privat= und Straf-
recht, für das die Bezeichnung droit international
privé gegenüber dem droit international public
gebräuchlich wurde, so daß droit international
ein beide Arten umfassender Gattungsbegriff ge-
worden ist. Da aber das sog. Internationale
Privatrecht (. d. Art.) rein innerstaatliche Rechts-
normen enthält, so kann es, trotz seiner Be-
ziehungen zum Völkerrecht, doch nicht zu diesem
gerechnet werden. Nur insoweit bilden einzelne
seiner Normen einen Teil des Völkerrechts, als sie
durch internationale Abkommen geregelt sind, also
internationalen Rechtsquellen entstammen, wie
dies vor allem bei den Haager Abkommen
betreffend den Zivilprozeß, die Eheschließung,