Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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»scheidung, »trennung und die Vormundschaft über 
Minderjährige von 1896 bzw. 1902 der Fall ist. 
III. Juristischer Charakter. Daß der mit 
dem Namen Völkerrecht bezeichnete Inbegriff von 
Normen von den Staaten der Völkerrechtsgemein- 
schaft als rechtlich verbindlich angesehen 
wird, ist unbestritten. Die Geschichte, namentlich 
der letzten Jahrhunderte, zeigt das Bestreben der 
Staaten, ihre wechselseitigen Beziehungen dauernd 
zu gestalten, ihnen eine rechtliche, von dem Willen 
des einzelnen unabhängige Grundlage zu ver- 
leihen. Sie selbst haben wiederholt in feierlicher 
Weise die verpflichtende Kraft des Völkerrechts 
bestätigt und verkündet (z. B. Deklaration des 
Aachener Kongresses von 1818, Pariser Vertrag 
von 1856 Art. 7, Pariser Seerechtsdeklaration 
von 1856, Berliner Vertrag von 1878 und vor 
allem die Haager Konferenzen von 1899 und 
1907 sowie die Londoner Seerechtsdeklaration 
von 1909). Ob aber dieses Völkerrecht wirklich 
die Natur des Rechts an sich trage, in der Tat 
Recht sei, wird noch immer mehrfach bestritten. 
Weil das Völkerrecht keine über den Staaten 
stehende Autorität, keine mit Herrschergewalt aus- 
gerüstete Organisation für Gesetzgebung, Rechts- 
pflege und Exekutive kenne, so seien die Normen 
des Völkerrechts nichts anderes als autonomes, 
äußeres Staatsrecht der einzelnen Staaten. Mit 
Recht ist hiergegen geltend gemacht worden, daß, 
wenn nur eine übergeordnete Herrschermacht Recht 
setzen kann, wenn allein im Staat Recht möglich 
ist, wenn der Staat zwar sich binden, aber auch 
jederzeit wieder von dieser seiner übernommenen 
Verpflichtung lösen kann, dann die Rechtsnatur 
des Völkerrechts in der Tat in Frage gestellt ist. 
Wenn man auch von der dieser Auffassung zu- 
grunde liegenden, auf einem falschen, extremen 
Souveränitätsbegriff aufgebauten Anschauung ab- 
sieht, daß der Staat die einzige Rechtsquelle, alles 
Recht Ausfluß der souveränen, d. h. omnipotenten 
Staatsgewalt sei, so steht jener Aufstellung schon 
die Tatsache entgegen, daß wie insbesondere 
Liszt hervorhebt, die Interessengemeinschaft eine 
so enge ist, daß sie den Eintritt und noch weniger 
den Austritt den Kulturstaaten gar nicht frei läßt, 
wenn anders sie sich nicht selbst vernichten wollen. 
Für die Dauer der Zugehörigkeit zu der Gemein- 
schaft ist aber jeder Staat an die ihm dadurch 
auferlegten Pflichten gebunden. 
Indessen selbst der Einwand: kein Gesetzbuch, 
kein Gericht, keine Exekutivbehörde, ist nicht stich- 
haltig. Denn das Recht ist nicht durch das Vor- 
handensein einer gesetzgebenden, richtenden und 
vollziehenden Gewalt bedingt, sondern ist viel- 
mehr das prius, diese das posterius. Der Mangel 
dieser Einrichtungen würde demnach nicht gegen 
die Rechtsnatur des Völkerrechts sprechen. In 
Wirklichkeit aber weist sie auch das Völkerrecht 
auf. Gewiß ist zuzugeben, daß sie, weil noch in 
den Anfängen befindlich, unvollkommen sind. In- 
dessen darf man nicht die Organisation des Staats, 
Völkerrecht. 
  
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die ja das Produkt eines langen geschichtlichen 
Prozesses ist, mit der einer erst in der Entwick- 
lung begriffenen Gemeinschaft, wie es die Völker- 
rechtsgemeinschaft ist, vergleichen. Der Mangel 
oder vielmehr die unvollkommene Bildung einer 
gesetzgebenden, richtenden und vollziehenden Ge- 
walt ist kein Argument gegen die Rechtsnatur des 
Völkerrechts, sondern beweist nur, daß dem Völker- 
recht noch nicht die gleiche praktische Bedeutung 
wie dem staatlichen zukommt. Es gibt zwar keinen 
über den souveränen Staaten stehenden Gesetz- 
geber, der größte Teil des Völkerrechts ist Ge- 
wohnheitsrecht, gleichwohl gibt es auch schriftlich 
fixierte Rechtssätze und Gesetze, wie sie uns in den 
zahllosen Einzel- oder Kollektivverträgen, ins- 
besondere in den neueren Konventionen entgegen- 
treten. Gesetzgeber sind hier die Staaten selbst, 
indem sie Gewohnheiten und Ubungen in Rechts- 
sätzen festlegen, neue Rechtssätze formulieren und 
diese als verbindlich anerkennen. Gebunden aber 
können wegen der Souveränität nur die vertrag- 
schließenden Staaten sowie die sein, welche dem 
Vertrag ausdrücklich oder stillschweigend beitreten. 
Schon im Privatrecht werden die meisten Rechts- 
pflichten ohne Einmischung der Gerichte, wenn 
auch vielleicht vielfach aus Scheu vor denselben, 
erfüllt, die Organisation der Rechtspflege soll vor 
allem unberechtigte Selbsthilfe ausschließen. Das 
Wesen der Völkerrechtsgemeinschaft schließt nun 
allerdings eine derartige den Staaten übergeord- 
nete Gerichtsorganisation aus. Gleich- 
wohl sind seit Jahrhunderten die völkerrechtlichen 
Verpflichtungen aus Scheu vor einem Krieg er- 
füllt worden. Anderseits gibt es eine Reihe von 
Mitteln, Streitigkeiten zwischen den Staaten 
friedlich beizulegen (uogl. d. Art. Krieg 1 u. II), 
von denen in neuerer Zeit das der Schiedsgerichte 
besondere Bedeutung erlangt hat. Die internatio- 
nale Schiedsgerichtsbarkeit (s. d. Art.) ist denn 
auch die einzige Art von allgemeinen Gerichten, 
die sich mit dem Wesen des Völkerrechts vereinen 
läßt. Sie hat an Durchschlagskraft durch die 
Anerkennung des Prinzips der obligatorischen 
Schiedssprechung seitens der Haager Konferenz 
1907 noch erheblich gewonnen. Auch der 1907 
errichtete Internationale Oberprisenhof trägt diesen 
Schiedsgerichtscharakter, indem auch hier das 
Prinzip der obligatorischen Schiedssprechung für 
Streiligkeiten von besonderem Ernst anerkannt 
wurde (vgl. d. Art. Prise). — Was endlich den 
Einwand des Fehlens einer Exekutivgewalt 
anlangt, so beruht er auf der überwundenen Auf- 
sfassung, daß zum Wesen des Rechts der Zwang 
gehöre. Anderseits fehlt aber auch dem Völker- 
recht der Zwang nicht. Von den Staaten ist es 
anerkannt, daß die Erfüllung völkerrechtlicher Ver- 
pflichtungen vor allem in der Form der Selbst- 
hilfe, in letzter Linie in der des Kriegs erzwungen 
werden kann. Gewiß kann die Zwangsorgoni- 
sation im Völkerrecht niemals die gleiche Voll- 
kommenheit wie auf dem Gebiet des Privatrechts
	        
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