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erreichen, weil es einen über den Staaten stehen-
den Richter ausschließt, aber dies ist schließlich
auch im Staatsrecht bezüglich der letzten Fragen
der Fall.
IV. OKuellen. Bei der Frage nach den Quellen
des positiven Völkerrechts ist einmal zwischen
Quellen und Voraussetzung oder Grundlage, so-
dann zwischen mittelbaren und unmittelbaren
Quellen zu unterscheiden. Man hat vielfach die
oPinio necessitatisoder übereinstimmende Rechts-
überzeugung sowie die Anerkennung den unmittel-
baren Quellen beigezählt. Indes mit Unrecht. Die
internationale Rechtsüberzeugung ist nur mittel-
bare Quelle, die Anerkennung dagegen sogar nur
Voraussetzung für die Gültigkeit eines Rechts-
satzes, nicht aber Quelle selbst. An unmittelbaren
Quellen des positiven Völkerrechts gibt es zwei:
Gewohnheit und Staatsvertrag.
1. Die ursprüngliche Form der Schaffung von
Völkerrecht ist die Gewohnheit, d. h. die tat-
sächliche Ubung auf Grund der übereinstimmenden
Rechtsüberzeugung. Auf keinem Rechtsgebiet ist
die Gewohnheit von solcher Bedeutung wie auf
dem des Völkerrechts. Der größte Teil der völker-
rechtlichen Normen, wie z. B. über Verträge, Ge-
sandtenrecht, Seerecht, Kriegsrecht beruht auf der
tatsächlichen Rechtsübung. Zunächst beschränkt sich
die Gewohnheit stets auf wenige Staaten; analoge
Bedürfnisse und Verhältnisse bei andern Staaten
erhebt die Gewohnheit zu einer allgemeinen und
dadurch zu einer Rechtsnorm des Völkerrechts. So
Bestandteil des positiven Völkerrechts geworden,
verpflichtet die allgemeine Gewohnheit, das Ge-
wohnheitsrecht auch die an der Bildung nicht be-
teiligt gewesenen Staaten, sofern sie Glieder der
Völkerrechtsgemeinschaftsein wollen. Erkenntnis-
mittel des Gewohnheitsrechts sind die tatsäch-
lichen Handlungen der staatlichen Organe im fried-
lichen und kriegerischen Verkehr der Staaten, wie
diplomatische Verhandlungen, Staatsverträge, die
nicht Rechtssätze schaffen, sondern nur konkrete
Rechtsverhältnisse regeln sollen, nationale Gesetze
und richterliche Entscheidungen, soweit sie durch
ihre inhaltliche Ubereinstimmung mit denen anderer
Staaten gemeinsame Rechtsüberzeugung bekunden,
sowie endlich die Entscheidungen der internatio-
nalen Gerichte, insbesondere der Schiedsgerichte.
2. Die zweite unmittelbare Quelle des positiven
Völkerrechts sind die Staatsverträge, und
zwar näherhin im Gegensatz zu den Verträgen
rechtsgeschäftlichen Inhalts, die nur konkrete Ver-
hältnisse regeln (wie z. B. Bündnis-, Grenz-
regulierungs-, Friedensverträge usw.), die recht-
setzenden Verträge (law-making treaties),
d. h. jene Verträge, die Rechtsnormen aufstellen,
allgemeines, die Kontrahenten verpflichtendes Recht
schaffen. Dies so gesetzte Recht ist gegenüber dem
Gewohnheitsrecht als dem ius non scriptum das
ius scriptum der Völkerrechtsgemeinschaft. Es
entsteht durch die übereinstimmende Willenserklä-
rung der Kontrahenten, die sich freiwillig binden,
Völkerrecht.
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und durch die Anerkennung der sie selbst verpflich-
tenden Kraft des so gesetzten Rechts ihm selbstän-
dige, von ihrem Willen nunmehr unabhängige
Existenz, Objektivität verleihen. Damit dieses
objektive Recht aber auch rechtlich wie praktisch
wirksam wird, ist noch der Erlaß einer inner-
staatlichen Rechtsnorm erforderlich, durch welche
die Organe und Untertanen der einzelnen Staaten
gleichfalls zur Befolgung der völkerrechtlichen Nor-
men verpflichtet werden. Die Staaten sind durch
die völkerrechtlichen Normen unmittelbar, ihre Or-
gane und Untertanen werden dagegen nur mittel-
bar, d. h. erst durch entsprechende staatliche Gesetze,
Verordnungen usw. gebunden, zu deren Erlaß sich
der einzelne Staat durch seine Willenserklärung
oder Anerkennung verpflichtet hat. An der vertrags-
mäßigen Rechtssetzung ist in der Regel eine größere
Anzahl von Staaten unter Vorbehalt des Beitritts
weiterer beteiligt (Kollektivverträge), doch können
einzelne Rechtsnormen, die nur für bestimmte
Staaten oder doch nur zunächst für diese Geltung
haben sollen, auch in Spezialverträgen, z. B. Aus-
lieferungs-, Handels= und Schiffahrtsverträgen,
erlassen werden. Größere Bedeutung haben solche
Spezialverträge als Mittel zur Erkenntnis an-
erkannter völkerrechtlicher Rechtssätze, insofern als
sich durch einen Vergleich der einzelnen Kategorien
derselben eine übereinstimmende Rechtsüberzeugung
aller Staaten nachweisen läßt. Aber auch die Ver-
ordnungen internationaler, durch Staatsverträge
begründeter Organe, wie z. B. der Sanitäts-
kommissionen, der internationalen Gerichte, ja
selbst die Entscheidungen der Schiedsgerichte sind
unmittelbare Quellen des Völkerrechts, sofern sie
innerhalb ihrer Zuständigkeit ergehen bzw. jene von
den Streitteilen die Aufgabe der Rechtssatzung aus-
drücklich erhalten haben. An Kollektivverträgen
oder Vereinbarungen, die von besonderer Bedeu-
tung für die Fixierung des allgemeinen Völker-
rechts sind, seien angeführt die Wiener Kongreßakte
von 1815, das Aachener Protokoll von 1818,
die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856, die
Genfer Konventionen von 1864 und 1906, die
Brüsseler Antisklavereiakte von 1890, die Haager
Konventionen von 1896, 1899, 1902 und 1907
sowie die Deklaration der Londoner Seekriegs-
rechtskonferenz von 1909.
V. Kodifsikation. Insoweit das Völkerrecht
ins non scriptum ist, fehlt es ihm an dem ge-
nauen und authentischen Ausdruck seiner Normen.
Der Behebung dieses Mangels durch Kodifikation
des gesamten Völkerrechts, d. h. durch ein seitens
aller Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft zu ver-
einbarendes Gesetzbuch, stehen wenigstens heute
noch bedeutende Schwierigkeiten entgegen, die nicht
nur technischer Natur sind, sondern vor allem
ihren Grund darin haben, daß in gewissen Grund-
fragen die Anschauungen der Staaten stark aus-
einandergehen, sodann darin, daß zunächst noch
keine Aussicht auf Begründung eines zum Schutz
des kodifizierten Rechts notwendigen internatio-