Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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erreichen, weil es einen über den Staaten stehen- 
den Richter ausschließt, aber dies ist schließlich 
auch im Staatsrecht bezüglich der letzten Fragen 
der Fall. 
IV. OKuellen. Bei der Frage nach den Quellen 
des positiven Völkerrechts ist einmal zwischen 
Quellen und Voraussetzung oder Grundlage, so- 
dann zwischen mittelbaren und unmittelbaren 
Quellen zu unterscheiden. Man hat vielfach die 
oPinio necessitatisoder übereinstimmende Rechts- 
überzeugung sowie die Anerkennung den unmittel- 
baren Quellen beigezählt. Indes mit Unrecht. Die 
internationale Rechtsüberzeugung ist nur mittel- 
bare Quelle, die Anerkennung dagegen sogar nur 
Voraussetzung für die Gültigkeit eines Rechts- 
satzes, nicht aber Quelle selbst. An unmittelbaren 
Quellen des positiven Völkerrechts gibt es zwei: 
Gewohnheit und Staatsvertrag. 
1. Die ursprüngliche Form der Schaffung von 
Völkerrecht ist die Gewohnheit, d. h. die tat- 
sächliche Ubung auf Grund der übereinstimmenden 
Rechtsüberzeugung. Auf keinem Rechtsgebiet ist 
die Gewohnheit von solcher Bedeutung wie auf 
dem des Völkerrechts. Der größte Teil der völker- 
rechtlichen Normen, wie z. B. über Verträge, Ge- 
sandtenrecht, Seerecht, Kriegsrecht beruht auf der 
tatsächlichen Rechtsübung. Zunächst beschränkt sich 
die Gewohnheit stets auf wenige Staaten; analoge 
Bedürfnisse und Verhältnisse bei andern Staaten 
erhebt die Gewohnheit zu einer allgemeinen und 
dadurch zu einer Rechtsnorm des Völkerrechts. So 
Bestandteil des positiven Völkerrechts geworden, 
verpflichtet die allgemeine Gewohnheit, das Ge- 
wohnheitsrecht auch die an der Bildung nicht be- 
teiligt gewesenen Staaten, sofern sie Glieder der 
Völkerrechtsgemeinschaftsein wollen. Erkenntnis- 
mittel des Gewohnheitsrechts sind die tatsäch- 
lichen Handlungen der staatlichen Organe im fried- 
lichen und kriegerischen Verkehr der Staaten, wie 
diplomatische Verhandlungen, Staatsverträge, die 
nicht Rechtssätze schaffen, sondern nur konkrete 
Rechtsverhältnisse regeln sollen, nationale Gesetze 
und richterliche Entscheidungen, soweit sie durch 
ihre inhaltliche Ubereinstimmung mit denen anderer 
Staaten gemeinsame Rechtsüberzeugung bekunden, 
sowie endlich die Entscheidungen der internatio- 
nalen Gerichte, insbesondere der Schiedsgerichte. 
2. Die zweite unmittelbare Quelle des positiven 
Völkerrechts sind die Staatsverträge, und 
zwar näherhin im Gegensatz zu den Verträgen 
rechtsgeschäftlichen Inhalts, die nur konkrete Ver- 
hältnisse regeln (wie z. B. Bündnis-, Grenz- 
regulierungs-, Friedensverträge usw.), die recht- 
setzenden Verträge (law-making treaties), 
d. h. jene Verträge, die Rechtsnormen aufstellen, 
allgemeines, die Kontrahenten verpflichtendes Recht 
schaffen. Dies so gesetzte Recht ist gegenüber dem 
Gewohnheitsrecht als dem ius non scriptum das 
ius scriptum der Völkerrechtsgemeinschaft. Es 
entsteht durch die übereinstimmende Willenserklä- 
rung der Kontrahenten, die sich freiwillig binden, 
Völkerrecht. 
  
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und durch die Anerkennung der sie selbst verpflich- 
tenden Kraft des so gesetzten Rechts ihm selbstän- 
dige, von ihrem Willen nunmehr unabhängige 
Existenz, Objektivität verleihen. Damit dieses 
objektive Recht aber auch rechtlich wie praktisch 
wirksam wird, ist noch der Erlaß einer inner- 
staatlichen Rechtsnorm erforderlich, durch welche 
die Organe und Untertanen der einzelnen Staaten 
gleichfalls zur Befolgung der völkerrechtlichen Nor- 
men verpflichtet werden. Die Staaten sind durch 
die völkerrechtlichen Normen unmittelbar, ihre Or- 
gane und Untertanen werden dagegen nur mittel- 
bar, d. h. erst durch entsprechende staatliche Gesetze, 
Verordnungen usw. gebunden, zu deren Erlaß sich 
der einzelne Staat durch seine Willenserklärung 
oder Anerkennung verpflichtet hat. An der vertrags- 
mäßigen Rechtssetzung ist in der Regel eine größere 
Anzahl von Staaten unter Vorbehalt des Beitritts 
weiterer beteiligt (Kollektivverträge), doch können 
einzelne Rechtsnormen, die nur für bestimmte 
Staaten oder doch nur zunächst für diese Geltung 
haben sollen, auch in Spezialverträgen, z. B. Aus- 
lieferungs-, Handels= und Schiffahrtsverträgen, 
erlassen werden. Größere Bedeutung haben solche 
Spezialverträge als Mittel zur Erkenntnis an- 
erkannter völkerrechtlicher Rechtssätze, insofern als 
sich durch einen Vergleich der einzelnen Kategorien 
derselben eine übereinstimmende Rechtsüberzeugung 
aller Staaten nachweisen läßt. Aber auch die Ver- 
ordnungen internationaler, durch Staatsverträge 
begründeter Organe, wie z. B. der Sanitäts- 
kommissionen, der internationalen Gerichte, ja 
selbst die Entscheidungen der Schiedsgerichte sind 
unmittelbare Quellen des Völkerrechts, sofern sie 
innerhalb ihrer Zuständigkeit ergehen bzw. jene von 
den Streitteilen die Aufgabe der Rechtssatzung aus- 
drücklich erhalten haben. An Kollektivverträgen 
oder Vereinbarungen, die von besonderer Bedeu- 
tung für die Fixierung des allgemeinen Völker- 
rechts sind, seien angeführt die Wiener Kongreßakte 
von 1815, das Aachener Protokoll von 1818, 
die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856, die 
Genfer Konventionen von 1864 und 1906, die 
Brüsseler Antisklavereiakte von 1890, die Haager 
Konventionen von 1896, 1899, 1902 und 1907 
sowie die Deklaration der Londoner Seekriegs- 
rechtskonferenz von 1909. 
V. Kodifsikation. Insoweit das Völkerrecht 
ins non scriptum ist, fehlt es ihm an dem ge- 
nauen und authentischen Ausdruck seiner Normen. 
Der Behebung dieses Mangels durch Kodifikation 
des gesamten Völkerrechts, d. h. durch ein seitens 
aller Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft zu ver- 
einbarendes Gesetzbuch, stehen wenigstens heute 
noch bedeutende Schwierigkeiten entgegen, die nicht 
nur technischer Natur sind, sondern vor allem 
ihren Grund darin haben, daß in gewissen Grund- 
fragen die Anschauungen der Staaten stark aus- 
einandergehen, sodann darin, daß zunächst noch 
keine Aussicht auf Begründung eines zum Schutz 
des kodifizierten Rechts notwendigen internatio-
	        
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