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das natürliche Menschenkind in ein Gotteskind
umgewandelt wird, ähnlich wie das Wort in
seiner nächsten Bedeutung in der Kunstsprache den
Vorgang bezeichnet, durch welchen der Bildhauer
einen rohen Block in ein Kunstwerk umformt.
Bildung als Tätigkeit des Bildners ist jene Ar-
beit, wodurch die geistigen, sittlichen, ästhetischen
und religiösen Kräste und Anlagen, die in der gott-
ebenbildlichen Menschennatur schlummern, geweckt,
aus der Potenz in Energie umgewandelt werden,
um den Menschen in den Besitz der höchsten Güter,
der Wahrheit, Sittlichkeit, Religion und des ästhe-
tischen Genusses zu setzen. Sie bringen im Men-
schen die Menschenwürde erst zur vollen Entfaltung,
ihre Mitteilung bildet darum auch den Gegen-
stand der Volksbildung. Bildung als Zustand
ist der Anteil des einzelnen Menschen an dem
Ideal edler, harmonisch ausgestalteter Menschlich-
keit (Ehrhard, Die Grundsätze der christlichen
Volksbildung 4, 12). Sie ist, entsprechend den
Grundkräften des Geistes, von doppelter Art: eine
intellektuelle und eine sittliche. Erstere erstrebt Be-
freiung des geistigen Menschen aus dem Druck
und der Enge der Unwissenheit, letztere aus den
Banden der Sinnlichkeit und Selbstsucht. Ver-
standesbildung hat nur dann vollen und wahren
Wert, wenn sie mit der sittlichen verbunden ist.
Anderseits ist es auch wieder wahr, daß, besonders
auf unserer heutigen Kulturstufe, eine echte mora-
lische Durchbildung ohne ein gewisses Mindest-
maß von Verstandesbildung undenkbar ist, weil
innerhalb der mannigfachen geistigen Einflüsse
unseres auch geistig differenzierten Kulturlebens
Urteilsfähigkeit und eine Summe positiver Kennt-
nisse notwendig ist, um die Lüge von der Wahr-
heit, den Schein von den Tatsachen zu unter-
scheiden. Die Bildung muß den Verstand wie den
Willen formen. Es ist deswegen die Einteilung
der Bildung in eine intellektuelle und eine ästhe-
tische, wie sie Paulsen (System der Ethik II/# 64)
vornimmt, und die Aufzählung der Bildungs-
mittel: Philosophie und Wissenschaft, Kunst und
Dichtung, keine erschöpfende. Charakterbildung,
Kräftigung des Willens für das Gute bliebe ja
damit vom Gebiet der Bildung ausgeschlossen.
Vielfach wird heutzutage der Wert der intellek-
tuellen Bildung, der ja gewiß über jedem Zweifel
steht, überschätzt und die moralische Bildung dar-
über vernachlässigt, und zwar nicht bloß auf den
Hochschulen, sondern schon in den Volksschulen.
Man glaubt durch Wissen allein den Menschen
auch gut zu machen. Der Gedanke einer ethischen
Wirkung des Wissens gehört der Antike an, welche
sehr einseitig Bildung und Sittlichkeit für ein und
dasselbe nahm. Es liegt im Begriff der Bildung,
daß das, was von außen aufsgenommen wird,
innerlich verarbeitet und zum geistigen Eigentum
der Persönlichkeit gemacht werde und damit auf
Charakter und Lebensführung bestimmend einwirke
(Mannheimer, Die Bildungsfrage als soziales
Problem 6 ff).
Volksbildung.
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Von großer Bedeutung ist die Bildung für das
Berufsleben des einzelnen wie für ganze Be-
rufskreise, d. h. für die Gesamtheit einer durch
Berufsinteressen verknüpften Klasse. Die Mehrung
der Bildung erscheint als eines der wichtigsten
Mittel für eine Klasse, zu einer höheren Lebens-
haltung emporzusteigen und nach erfolgtem Auf-
schwung die Besserung der materiellen Lage in
menschenwürdiger Weise zu nutzen. Ein großes
historisches Beispiel bietet der Arbeiterstand Eng-
lands im 19. Jahrh., der aus gedrückter Lage
zu einer bedeutenden Verbesserung seiner Lebens-
haltung sich emporrang. Diesem Erfolg gegen-
über muß der landläufige Einwurf, Bildung
mache den Arbeiter bloß begehrlicher, verstummen,
denn wir sehen nicht bloß eine Hebung des wirt-
schaftlichen, sondern auch des sittlichen
Niveaus. Hier zeigt sich wieder, wie eng die Ver-
bindung von Okonomie und Moral ist. „Wohl
ist“, schreibt der Historiker der sozialen Bewegung
der englischen Arbeiterschaft, „die Erweiterung des
Wissens und die Schärfung des Verstands noch
nicht unbedingt Veredlung des Wesens, Hebung
des Sittlichen, aber wo diese noch nicht folgt, pflegt
jene doch wenigstens die Roheit des Willens zu
schwächen. Daß aber auch eine Verfeinerung der
Sitten eingetreten ist, ist schon aus den Ver-
gnügungen zu schließen, in denen der Arbeiter-
stand gegenwärtig vielfach Freude und Erholung
sucht: Bildung, die verschiedenen Sports, Aus-
flüge auf das Land und an die See, Blumenzucht,
alles Dinge, die vor zwei Menschenaltern so gut
wie unbekannt waren. . Ferner beweist die
bewunderungswürdige Ausbreitung der Gewerk-
vereine, Hilfskassen, Erwerbs= und Wirtschafts-
genossenschaften aller Art, wie sehr die hauswirt-
schaftlichen Tugenden der Sparsamkeit und Vor-
aussicht und im allgemeinen die Selbstzucht
zugenommen haben müssen" (v. Nostitz, Das Auf-
steigen des Arbeiterstands in England 11900!]
724 f). Ein ebenso erfreuliches Anzeichen ist, daß
in den Arbeitergenossenschaften das Trinken zweifel-
los sehr abgenommen hat (ebd. 726).
II. Volkbildung und Kirche. Eine ge-
wisse allgemeine Volksbildung ist für unsere Zeit
sehr zu wünschen, auch vom Standpunkt des
Christentums und der Kirche. Da die Angriffe
auf den christlichen Glauben auf fast allen Ge-
bieten des menschlichen Wissens erhoben werden,
so wird es für jeden, auch für den Mann der
körperlichen Lohnarbeit, zur unabweisbaren Pflicht,
sich aus verschiedenen Wissenszweigen, aus Philo-
sophie, Geschichte, Naturwissenschaften, Gesell-
schaftslehre Aufklärung zu verschaffen, um solche
Angriffe abzuwehren, die von den Sendboten des
Unglaubens, von einer frivolen Presse, von sozia-
listischen Agitatoren gemacht werden, sei es durch
gesunde Lektüre oder durch den Besuch apologeti-
scher Vorträge oder durch Befragen von Sachver-
ständigen (ugl. Hößle, Abendunterhaltungen über
religiöse Zeit= u. Streitfragen in Wechselgesprächen