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güterten als der besitzlosen Klassen machen. Nicht
bloß hinsichtlich der Vollsschule, sondern auch den
Gemeindemitgliedern gegenüber, bei denen ein
Bildungszwang nicht mehr möglich ist, hat die
Stadt weitgehende Pflichten auf dem Gebiet der
Bildung. Die Erhöhung der wirtschaftlichen Lei-
stungsfähigkeit, die Bekämpfung der geradezu ge-
meingefährlichen selbstzufriedenen Halbbildung,
die Zurückdrängung des Alkoholismus, die Ver-
minderung der Kriminalität sind die hohen Preise,
die hier zu gewinnen sind“ (Damaschke, Aufgaben
der Gemeindepolitik (71904) 38).
Man darf auch nicht vergessen, daß echte Kunst
nur dort erblüht, wo ihre Wurzeln tief in die
Volksseele hinabreichen und aus dem wechsel-
vollen Volksleben wie aus einem Jungbrunnen
immer neue Kraft und Frische schöpfen. Andern-
falls entartet sie zu einem Luxusartikel der Reichen,
der dem Sinnenkitzel oder der unwürdigen Ver-
herrlichung kapitalistischer Mäcenaten dient. Die
Kultur eines Volks, die nach zwei Seiten aus-
einanderklafft, ist eine ungesunde und hat keine
Aussicht auf Bestand. Wenngleich wir das vom
älteren Sozialismus angestrebte Ziel gleicher Bil-
dung aller als utopistisch ablehnen, so soll es doch
ein gemeinsamer Kulturboden sein, auf dem die
verschiedenen Klassen des Volks zusammentreffen.
Zudem ist ein gesteigertes Interesse der unteren
Schichten für geistigen Genuß eine notwendige
Voraussetzung für den Erfolg der heutigen sozial-
politischen Bestrebungen. Wenn wir vollkommene
Sonntagsruhe, Verkürzung des Arbeitstags, Er-
höhung des Lohns dem Arbeiter beschaffen wollen,
so wird dagegen bisweilen mehr oder weniger
verhüllt der Einwand geltend gemacht: Was nützt
es, den arbeitenden Klassen mehr Lohn zu zahlen
und den Arbeitstag zu kürzen, da das Resultat
doch bloß in der Vermehrung niederen Genießens
besteht? Gerade in der Hebung der Bildung der
lohnarbeitenden Klassen liegt ein wirksames Mittel
zur Bekämpfung des Alkoholismus. Vorläufig
spielt das Wirtshaus im Leben des deutschen Ar-
beiters „nicht nur etwa aus klimatischen Gründen
eine größere Rolle als etwa bei seinem spanischen
oder italienischen Standesgenossen, sondern auch
aus politischen. Man mag die sozialdemokra-
tische Arbeiterbewegung billigen oder verurteilen,
jedenfalls muß man mit ihr rechnen, und zwar auch
in der Alkoholfrage, denn sie regiert die Arbeiter-
massen und führt sie zu diesem Zweck ins Wirts-
haus. Kautzky sagt nicht ohne Berechtigung:
„Ohne Wirtshaus gibt es für den deutschen Prole-
tarier nicht bloß kein geselliges, sondern auch kein
politisches Leben." Die bemittelten Volksklassen
bauen sich Klub= und Gesellschaftshäuser. Auch
die wohlhabenden englischen Arbeiter sind aus der
Kneipe in eigne Häuser gezogen, in denen sie vom
Wirt unabhängig, also auch nicht zum Bier= und
Schnapstrinken gezwungen sind. Die deutschen
Arbeiter sind an die Schenke gebunden, führen
auch den jungen Nachwuchs, den sie für sich schulen
Staatslexikon. V. J. u. 4. Aufl.
Volksbildung.
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wollen, dorthin und gewöhnen ihn dabei an den
regelmäßigen Genuß von Alkoholgetränken" (Mar-
tius, Die schulentlassene erwerbsarbeitende Jugend
und der Alkohol 184). Man bedenke ferner, daß
von den Vergehen gegen die öffentliche Ordnung,
von den Körperverletzungen und Sittlichkeitsver-
gehen mehr als der dritte Teil auf den Sonntag
fällt. Der Alkoholismus läßt sich nur dadurch
wirksam bekämpfen, daß man etwas Besseres an
seine Stelle setzt. Vielfach huldigen die unteren
Klassen dem Genuß der geistigen Getränke, um
sich dadurch über die Misere des dumpfen Alltags-
lebens hinwegzutäuschen und die bei der Arbeit
entstehenden Unlustempfindungen zu verscheuchen.
Es fehlt an Bildung des Geistes, um ohne die Sti-
mulierung durch Alkohol eine längere gemütliche
Unterhaltung zu führen, während gebildete Men-
schen mit guten Kenntnissen und geistigem Aus-
tauschbedürfnis sich stundenlang zu unterhalten
vermögen, ohne nach einem solchen Anregungs-
mittel zu verlangen. Nur Bindemittel, die an-
regender sind als Bier und Schnaps, eine tiefere
Bildung des Geistes und Veredlung des Gemüts
durch die mannigfachen Mittel der Volksbildung,
zu welchen auch eine gesunde, edle Volksunterhal-
tung gehört, öffentliche Lesehallen, billige Theater
und Konzerte können den erwünschten Wandel
hervorbringen. „Je größer das Verlangen nach
geistiger Nahrung ist, desto geringer ist gewöhn-
lich das Verlangen nach geistigen Getränken“
(ebd. 215).
Die Vermehrung der Bildung ist weiter für die
arbeitenden Klassen eines der wichtigsten Mittel,
zu einer höheren Lebenshaltung emporzusteigen
und nach erfolgtem Aufschwung den erhöhten
standard of life zu behaupten und in menschen-
würdiger Weise auszunutzen, wie oben bereits an
dem Arbeiterstand Englands im 19. Jahrh. nach-
gewiesen wurde.
Die modernen Volksbildungsbestrebungen sind
nicht ohne Anfechtung geblieben. Abgesehen
davon, daß gleich im Anfang der politische und re-
ligiöse Radikalismus sich ihrer zu seinen Zwecken be-
mächtigte und so ein berechtigtes Mißtrauen gegen
diese Volksbildung wachrief (Biermer S. 527),
hat man sich auch aus egoistischen und einseitigen
Motiven der Volksbildung gegenüber apathisch
oder wenigstens gleichgültig verhalten, indem die
besitzenden Klassen eine steigende Bildung und
damit einen wachsenden Einfluß der unteren
Schichten als eine Einbuße ihrer privilegierten
Stellung betrachteten. Auch hat man, besonders
in Kreisen der wissenschaftlichen Welt, den Volks-
bildungsvereinen den Vorwurf gemacht, sie för-
derten die Halbbildung; ganz ist derselbe auch
heute noch nicht verstummt, und bisweilen entbehrt
er auch nicht jeder Berechtigung. Sie verfügen
nicht immer über Redner, die in wissenschaftlicher
Beziehung allen Ansprüchen entsprechen, aber vor
allem deswegen, weil die Vereine nicht immer die
nötigen Geldmittel besitzen, um hervorragende
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