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aber doch den Trieb zur Weiterbildung in sich
verspüren. Nur an solche wollen sie sich wenden
und nur solche werden sie dauernd fesseln, nicht
aber, die bloß gelegentlich an einem Vortrag
naschen wollen. Die Volkshochschulen können, wie
dies in England und Dänemark (Volker S. 103fj;
Reyer S. 23) mit Erfolg geschieht, auch die Stu-
denten in den Dienst ihrer Aufgabe stellen und so ihr
Arbeitsgebiet bedeutend erweitern. Wie Schmoller
betont, ist es aufrichtig zu wünschen, daß die
Universitätslehrer es als eine soziale Pflicht be-
trachten, an dem Ausgleich des großen Bildungs-
gegensatzes mitzuarbeiten (bei Fuchs S. 57. Diese
Abhandlung enthält eine Übersicht der von den
einzelnen deutschen Hochschulen veranstalteten Kurse
und ihrer Erfolge sowie der volkstümlichen Hoch-
schulkurse im Anschluß an andere Organisationen:
1) Humboldt-Akademie in Berlin 68 ff; 2) Vor-
lesungen der Oberschulbehörde in Hamburg 70 ff;
3) Ausschuß für Volksvorlesungen in Frankfurt
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4 ff).
Wie bei allen Veranstaltungen der Volksbildung
empfiehlt es sich, das Entgelt für Vorträge,
Kurse usw. zwar niedrig anzusetzen, aber nicht
gänzlich wegfallen zu lassen, da erfahrungsgemäß
der Wert des Gebotenen in den Augen des Volks
durch die Forderung des Entgelts steigt. „Der
Arbeiter und namentlich der klassenbewußte Ar-
beiter will heute nichts geschenkt bekommen, er
will kein Almosen, auch kein geistiges“ (Schriften
der Zentralstelle Nr 18, S. 118).
Was die Teilnahme an den Volkshochschul-
kursen anlangt, so sind jene Gruppen der arbeitenden
Bevölkerung am stärksten vertreten, welche am
besten bezahlt sind, die kürzeste Arbeitszeit, die
beste Organisation und die größte Intelligenz
haben: Metallarbeiter und Buchdrucker. „Je
schlechter die Organisation, desto schwieriger wird
es, die Kurse bekannt zu machen, die Karten zu
vertreiben. Je schlechter die Lebensstellung, desto
größer werden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten,
die nur zum geringsten Teil von seiten der Lei-
tung der volkstümlichen Kurse überwunden werden
können“ (Fuchs, Volkstümliche Hochschulkurse 21).
Daß übermüdete Arbeiter für geistige Anregung
wenig Empfänglichkeit besitzen, ist eine Tatsache
der Erfahrung. So zeigt sich, daß zuerst der
Arbeiter materiell derart gestellt sein muß, daß
ihm noch Zeit und Lust für Bildungszwecke übrig
bleibt. — Die Teilnahme der Frauen an den
Kursen beträgt zwischen 25 und 32 % ; weniger
interessieren sie sich für naturwissenschaftliche, tech-
nische und juristische Gegenstände, mehr für Lite-
ratur= und Kunstgeschichte, besonders aber für
Gegenstände, die ihrem häuslichen Beruf nahe-
stehen, wie Krankenpflege. Kinderheilkunde u. ä.
(Fuchs S. 18).
2. Volksbibliotheken, Lesehallen,
Kolportage. Die notwendige Ergänzung des
Vortragswesens bilden die Volksbibliotheken und
Lesehallen. Um hier Gutes und Ersprießliches zu
Volksbildung.
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leisten, bedarf die Vereinstätigkeit der Ergänzung
durch Staat und Gemeinde. Hierin ist Amerika
und England dem europäischen Kontinent weit
vorausgeeilt. Besonders betrachten es in Amerika
reiche Bürger als Ehrenpflicht, durch Millionen-
stiftungen reiche Volksbibliotheken ins Leben zu
rufen. In einer höchst lesenswerten Schrift: Die
Pflichten des Reichtums (deutsche Ausgabe, Leip-
zig, Peter Hobbing), sagt der amerikanische Mil-
lionär Andrew Carnegie, der der Stadt Pittsburg
eine große Bibliothek zum Geschenk machte: „Das
Ergebnis meiner eignen Betrachtungen über die
Frage nach dem besten Geschenk, das man einer
Gemeinde machen kann, ist, daß eine freie, öffent-
liche Bibliothek den ersten Platz behauptet, vor-
ausgesetzt, daß die Gemeinde die Spende anzu-
nehmen und sie als öffentliche Einrichtung zu
bewahren geneigt ist, als einen ebenso wertvollen
Teil des Gemeindebesitzes wie die öffentlichen
Schulen und zugleich als eine Ergänzung der-
selben“ (Nörenberg, Offentliche Bibliotheken in
Amerika; bei Reyer S. 201). Wenn wir in dieser
Beziehung auch noch weit hinter England und
Amerika zurückstehen, so darf doch nicht über-
sehen werden, daß deren Volksbibliotheken nicht
solche in unserem Sinn sind, sondern auch das in
sich begreifen, was in unsern Staats= und Uni-
versitätsbibliotheken nur einem kleinen Teil des
Volks zugänglich ist, und daß durch die großen
Aufwendungen für Volksbibliotheken der Mangel
an einem obligatorischen Volksschulunterricht aus-
geglichen werden soll (Apel, Die Verbreitung guten
Lesestoffs 15).
Volksbibliotheken sind eine Notwendigkeit, weil
das Lesebedürfnis vielfach erst geweckt, oder wo es
bereits vorhanden ist, erst durch sie in rechter Weise
befriedigt wird. Die Untersuchung der Frage:
Was liest unser Volk? wie sie Professor Neyer u. a.
(Reyer, Was das Volk liest, Wiener Lit. Zeitg
3. Jahrg., Nr 6) angestellt haben, zeigen, daß
das Volk noch vielfach keinen Geschmack für geist-
bildende Lektüre besitzt. Die Kolportage und die
Leihbibliothek müssen vielfach das vorhandene Lese-
bedürfnis befriedigen, und sie tun es in einer für
die wahre Bildung höchst nachteiligen Weise. Wie
traurig es um die Hausbücherei der unteren Klassen
vielfach bestellt ist, zeigt die Bibliothek eines Dienst-
mädchens, die nach dem „Bildungsverein“ (1903,
Nr 3, S. 23) bestand aus zwei stark abgegriffenen
Schauerromanen, einem Traum- und Punktier-
büchlein, einem Exemplar „Lenormand oder die
Kunst des Kartenlegens“, einem Wunschbuch,
einem Liebesbriefsteller, einer Sammlung der
„Neuesten und schönsten Volkslieder“, einem Sol-
datenliederbuch und einigen handschriftlich gesam-
melten Gedichten. Als Probe der letzteren genügt
der Vers aus dem Lied von dem treulosen Heinrich,
der nach dem Tod seiner ersten Gattin eine reiche
Erbin vom Rhein heimführte:
Zwölf Uhr schlug's, da drang durch die Gardine
Eine weiße kalte Totenhand.