Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Mit dieser „Dienstmädchenbibliothek“ wird die 
„Hausbücherei“ manch kleinen Handwerkers und 
Arbeiters viel Ahnlichkeit haben (Apel S. 107). 
Niedrige Erotik und Aberglaube werden meist 
das Thema bilden. Gerichtsverhandlungen und 
Umfragen in Gefängnissen haben das Resultat 
zutage gefördert, daß die Verbrecher meist durch 
das Lesen schlechter Romane auf Abwege gebracht 
werden. 
Um der durch die Kolportage und Leihbibliotheken 
verbreiteten Hintertreppenliteratur entgegenzuar- 
beiten, bedarf es der Volksbibliotheken, in denen 
die Entnahme von Büchern durch keinen schwer- 
fälligen bureaukratischen Apparat gehindert ist. 
Bei der herrschenden Wohnungsnot der unteren 
Stände bietet jedoch das eigne Heim vielfach dem 
Arbeiter keinen entsprechenden Naum, um der 
Lektüre zu pflegen. Daher sind luftige, gut be- 
leuchtete und geheizte, bequem eingerichtete öffent- 
liche Lesehallen ein dringendes Bedürfnis. Hier 
wird neben einer Handbibliothek hauptsächlich für 
Zeitschriften und Zeitungen gesorgt werden müssen. 
Über ihre technische Ausstattung gibt Huppert 
(Offentliche Lesehallen, ihre Aufgabe, Geschichte 
und Einrichtung) beachtenswerte Winke. Freilich 
sind dazu bedeutende Mittel erforderlich; bisher 
haben aber Staat und Gemeinde nach dieser Rich- 
tung ihre sozialpolitische Pflicht nur in geringem 
Umfang realisiert. Einzelne Städte, wie Köln, 
besitzen musterhaft eingerichtete Lesehallen, mit 
denen Volksbibliotheken verbunden sind. Durch die 
Munifizenz der Familie Rothschild besitzt Frank- 
furt a. M. eine Volksbibliothek großen Stils 
mit prächtigem Lesesaal (Reyer S. 211 ff). Aber 
auch die Kreise, für welche diese Einrichtungen ge- 
schaffen werden, haben denselben noch keineswegs 
das volle Verständnis entgegengebracht. Die Apa- 
thie kann nur durch zähe, unverdrossene Arbeit 
überwunden werden. Freilich wird man immer 
damit rechnen müssen, daß der Prozentsatz der 
Arbeiter, welche, wenn sie abends ermüdet nach 
Hause kommen, noch zum Lesen eines guten Buchs 
aufgelegt sind, kein allzu großer ist. Doch steckt 
nach dem Urteil aller Sachverständigen ein ge- 
waltiger Bildungsdrang im Volk, und die intelli- 
genten Arbeiter wissen den Wert, auch den wirt- 
schaftlichen, der Bildung vollauf zu schätzen. Lese- 
hallen sind auch ein vortreffliches Mittel, Leuten, 
die zu Hause nicht lesen können, eine gemütliche 
Stätte zu bieten und andere von der Straße und 
aus dem Wirtshaus fernzuhalten (vgl. Huppert, 
Offentliche Lesehallen (/1899)). 
Aber damit ist noch nicht alles geschehen, um 
die Gefahr der schlechten Lektüre zu paralysieren. 
Die Kolportage wirft die Erzeugnisse gewissenloser 
Skribenten dem Volk ins Haus, erspart ihm den 
Gang zum Buchhändler und zur Bibliothek. Aber 
es fragt sich, ob es denn gerade jene gewissenlose 
Kolportage sein muß, die unser Volk mitschlechter, 
sittenverderblicher und obendrein viel zu teurer 
Schundware überschüttet? Vielleicht gilt hier der 
  
Volksbildung. 
  
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Grundsatz, vom Gegner zu lernen und den Feind 
mit seinen eignen Waffen zu schlagen (Apel S. 70). 
Aus diesen Erwägungen heraus entstanden seit 
der Preßfreiheit eine Reihe von Kolportageunter- 
nehmungen, vielfach aufchristlich-kirchlicher Grund- 
lage. Dieselben sind teils von Kolportage= und 
Schriftenvereinen teils von der innern Mission 
teils auch von Verlegern ins Werk gesetzt. Die 
Charitas — denn um charitative Bestrebungen 
handelt es sich zumeist — ist erfinderisch, um die 
entsprechenden Mittel und Wege zu finden. „Die 
Berliner Stadtmission versieht durch einen Stadt- 
missionar und eine dazu angestellte Hilfskraft, die 
je sieben freiwillige Helfer hinter sich haben, wö- 
chentlich 2500 Hotelbedienstete in sämtlichen 
größeren Berliner Hotels und etwa die gleiche An- 
zahl Restaurantbedienstete mit gedruckten Predig- 
ten, die ihnen den fehlenden Gottesdienst ersetzen 
sollen. Die Mitglieder des Christlichen Vereins 
junger Männer in Berlin verrichten den gleichen 
Dienst an andern Sonntagslosen: Droschken- 
kutschern, Feuerwehrleuten, Polizisten, Pferde- 
bahnbeamten, Postbeamten usw. Ahnlich wirken 
an andern Orten die Vereine für innere Mission 
durch freiwillige Helfer. Diese freiwillige Hilfe ist 
es, die zur Verteilung populärer Flugschriften, 
überhaupt zur Verbreitung guten Lesestoffs in viel 
reicherem Maß in Anspruch genommen und geübt 
werden sollte (Apel S. 104). Besondere Kol- 
portagevereine sind protestantischerseits der Nas- 
sauische, 1863 gegründet, und der Christliche 
Kolportageverein mit dem Sitz zu Gernsbach in 
Baden. Ferner betreibt auch der Calwer Verlags- 
verein, der im Jahr 1833 zu dem Zweck gegründet 
wurde, christliche (evangelische) Bücher zu mäßigen 
Preisen herauszugeben, seit dem Jahr 1878 die 
Kolportage guter Schriften mit der Tendenz christ- 
licher Volksbildung. Auf katholischer Seite hat 
man erst spät mit der eigentlichen Kolportage be- 
gonnen. In Nürnberg haben die katholischen 
Vereine dieselbe systematisch organisiert. Auch in 
Stuttgart, Köln, München-Gladbach, Essen usw. 
hat man Kolportagen eingerichtet. (Vgl. Huppert 
in den Borromäusblättern über Geschichte und 
Einrichtung der Kolportage; Katholische Kol- 
portage in den Sozialen Tagesfragen, heraus- 
gegeben vom Volksverein für das katholische 
Deutschland). 
Ein ähnliches Ziel verfolgt der katholische Ver- 
ein vom hl. Karl Borromäus, gegründet 
20. März 1844. Er sucht die Verbreitung guter 
Bücher dadurch zu fördern, daß er 1) jährlich 
allen Vereinsangehörigen nach Maßgabe ihres 
Beitrags und der Vereinsmittel eine oder mehrere 
Schriften als Vereinsgabe unentgeltlich zugehen 
läßt; 2) ein Verzeichnis seinem Zweck entsprechen- 
der Schriften beifügt, deren Anschaffung er allen 
Vereinsangehörigen durch Erwirkung möglichst 
niedriger Preise zu erleichtern sich bemüht; 3) aus 
den jährlichen Uberschüssen Bibliotheken errichtet 
und unterstützt, zu deren Benutzung die betreffen-
	        
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