Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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wird der gute Wille Wege und Formen zu finden 
wissen. Die Unterhaltung kann sich auch in einem 
mehr familiären Rahmen halten. „Eine Dresdener 
Dame versammelte alle 14 Tage am Sonntag 
nachmittag in ihren Privaträumen eine im besten 
Sinn — Blumen= und Gemüsefrauen, Dienst- 
mädchen, Fabrikarbeiterinnen und junge Fabrik- 
arbeiter — gemischte Gesellschaft. Es sind 25 Per- 
sonen zwischen 15 und 70 Jahren. Zuerst wird 
von 4 bis ½6 Uhr Kaffee getrunken und geplau- 
dert. Dann wird bis 7 Uhr vorgelesen, erzählt 
und musiziert. Junge Damen helfen die Mit- 
glieder dieses kleinen Vereins, der sich , Frohsinn“ 
nennt, unterhalten. Eine weitgereiste Amerikanerin 
erzählt z. B. anschaulich von Japan. Wie viel 
Groll und Verbitterung, Neid und Resignation 
würden aus den Kreisen der jungen Lohnarbeiter 
schwinden, wie würden sie bald an der rohen 
Alkoholgeselligkeit den Geschmack verlieren, wenn 
die Besitzenden durch persönliche Berührungen 
dieser Art die Kluft der Stände überbrücken und 
Sonnenschein in ihr Herz strahlen lassen wollten!“ 
(Martius, Die schulentlassene Jugend 216.) Da- 
mit greift die Volksbildung über den Bereich der 
eigentlichen Volksbildungsvereine hinaus und 
nähert sich den Aufgaben der auch andern Zwecken 
dienenden Vereinigungen, der zahlreichen Jugend-, 
Lehrlings-, Gesellen-, Arbeiter= und Arbeiterinnen= 
vereine, Patronagen (s. d. Art.) usw. Auch hu- 
mane Arbeitgeber haben schon Treffliches zuwege 
gebracht. Gerade das Moment der Gemütspflege 
hat sich die Kirche bei ihren Bildungsbestrebungen 
stets angelegen sein lassen, wie auch von objektiv 
denkenden Beurteilern anerkannt wird (Reyer 
S. 83). Es waren besonders die Jesuiten, welche 
in ihren Gymnasien die dramatischen Auffüh- 
rungen pflegten; Goethe hat ihnen darüber seine 
vollste Anerkennung ausgesprochen (Hahn, Jugend- 
klubs 32 f). Daß auch der Sinn für die Natur in 
den lohnarbeitenden Klassen durch gemeinsame 
Feste, Ausfluge gepflegt werden soll, ist klar; doch 
verlassen wir damit schon das Gebiet der Bil- 
dungsbestrebungen. 
Auf katholischer Seite hat sich namentlich der 
Volksverein für das katholische Deutschland des 
Volksbildungswesens angenommen. Vorbildlich 
sind die seit 1902 in Köln von den Arbeiter- 
vereinen und christlichen Gewerkschaften veranstal- 
teten Volksbildungsabende. Es werden dort dem 
Volk wahrhaft künstlerische Aufführungen gegen 
ein Eintrittsgeld von 10 oder 20 Pf. geboten. 
Die besten Künstler und Künstlerinnen wirken 
mit, und wie Augenzeugen versichern, ist es eine 
Freude, die Begeisterung und das Verständnis 
zu sehen, mit denen die künstlerischen Leistungen 
aufgenommen werden. llber die ganze Bewegung 
auf katholischer Seite vgl. Otto Müller, Volks- 
bildungsabende und die geistige Bildung des 
Arbeiterstands (Soziale Tagesfragen, heraus- 
gegeben vom Volksverein für das katholische 
Deutschland). 
Volksbildung. 
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Der springenden Punkt in dem Verhältnis der 
Arten der Volksbildung zu den bloßen Volksunter- 
haltungen bezeichnet der bekannte Sozialpolitiker 
Stadtrat Flesch (Zeitschr. der Zentralstelle (1897), 
Nr 24, S. 285) damit: „Die Beteiligung der 
Arbeiter an den Forschungen der Wissenschaft 
(Volksvorlesungen), die Darbietung der Meister- 
werke der Musik (Volkskonzerte), der Bühne (Volks- 
vorstellungen), der bildenden Kunst (Museums- 
besuch, Führungen usw.) sind Dinge der bedeut- 
samsten Art, welche sich den Bemühungen auf dem 
großen Gebiet der Kulturinteressen, den Bestre- 
bungen zur Verwirklichung der politischen Gleich- 
berechtigung und sozialen Gleichstellung anreihen, 
indem sie den Arbeitern etwas geben, was sie 
derzeit nicht haben und sich zurzeit als Arbeiter 
nie schaffen können. Die Veranstaltung bloßer 
Volksunterhaltungen, d. h. also hübscher, den 
Anforderungen des Geschmacks und der Sittlich- 
keit entsprechenden Nachmittagsvergnügungen ist 
gewiß nicht gleichgültig, da sie insbesondere er- 
ziehlich im Sinn der Mäßigkeitsbestrebungen, 
Antialkoholbestrebungen usw. wirken können. 
Aber sie geben den Arbeitern nichts, was dieselben 
sich nicht schon jetzt verschaffen könnten. Sie weisen 
den Vermögenden die Rolle der Bevormundenden 
und Spendenden anstatt der Stellung von gleich- 
berechtigten Mitarbeitern zu. Die Befürchtung 
ist, daß sie gelegentlich, vielleicht gegen den Willen 
der Veranstalter, benutzt werden, um an die Stelle 
der großen Aufgabe der Erhebung der Unbemit- 
telten zur Gleichberechtigung die sozial relativ 
unerhebliche der Beruhigung der unteren Klassen, 
der bloßen Sicherung der Vermögenden zu setzen“ 
(Albrecht, Fünf Jahre praktisch-sozialer Tätig- 
keit 29 f). 
Besonders wäre es im Interesse der Sittlichkeit 
freudig zu begrüßen, wenn es gelänge, durch eine 
veredelte Volksunterhaltung eine Besserung in den 
Beziehungen der Geschlechter herbeizuführen, die 
ja in allen Schichten des Volls, oben wie unten, 
so nottut. Ein so erfahrener Volkswirt und 
Menschenfreund wie Viktor Böhmert äußert in 
einer Abhandlung: „Die Erholungen der Arbeiter 
außer dem Hause“ (S. 13) die Meinung, die 
Geschlechter sollen nicht ängstlich getrennt, son- 
dern auf dem Boden reiner Freuden zusammen- 
geführt werden. Namentlich sollte der Bildung 
des weiblichen Geschlechts mehr Interesse ent- 
gegengebracht werden. Er befürwortet darum die 
Begründung von Frauen= oder Mädchenheimen 
für Arbeiterinnen, von Haushaltungskursen usw. 
„Die Erholungen der Arbeiterinnen, namentlich 
der Fabrikmädchen, liegen weit mehr im argen 
als die Erholungen der Männer und Jünglinge. 
Die männliche Jugend ist zum Teil von einem 
lebhaften Bildungsdrang bescelt. Die Beschäf- 
tigung der Männer und Jünglinge mit Politik, 
soviel Unklares und Unreifes auch dabei mit unter- 
läuft, ist doch immer noch der Völlerei, Trunk- 
sucht und Unsittlichkeit, zu welcher Kneipen und 
 
	        
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