911
wird der gute Wille Wege und Formen zu finden
wissen. Die Unterhaltung kann sich auch in einem
mehr familiären Rahmen halten. „Eine Dresdener
Dame versammelte alle 14 Tage am Sonntag
nachmittag in ihren Privaträumen eine im besten
Sinn — Blumen= und Gemüsefrauen, Dienst-
mädchen, Fabrikarbeiterinnen und junge Fabrik-
arbeiter — gemischte Gesellschaft. Es sind 25 Per-
sonen zwischen 15 und 70 Jahren. Zuerst wird
von 4 bis ½6 Uhr Kaffee getrunken und geplau-
dert. Dann wird bis 7 Uhr vorgelesen, erzählt
und musiziert. Junge Damen helfen die Mit-
glieder dieses kleinen Vereins, der sich , Frohsinn“
nennt, unterhalten. Eine weitgereiste Amerikanerin
erzählt z. B. anschaulich von Japan. Wie viel
Groll und Verbitterung, Neid und Resignation
würden aus den Kreisen der jungen Lohnarbeiter
schwinden, wie würden sie bald an der rohen
Alkoholgeselligkeit den Geschmack verlieren, wenn
die Besitzenden durch persönliche Berührungen
dieser Art die Kluft der Stände überbrücken und
Sonnenschein in ihr Herz strahlen lassen wollten!“
(Martius, Die schulentlassene Jugend 216.) Da-
mit greift die Volksbildung über den Bereich der
eigentlichen Volksbildungsvereine hinaus und
nähert sich den Aufgaben der auch andern Zwecken
dienenden Vereinigungen, der zahlreichen Jugend-,
Lehrlings-, Gesellen-, Arbeiter= und Arbeiterinnen=
vereine, Patronagen (s. d. Art.) usw. Auch hu-
mane Arbeitgeber haben schon Treffliches zuwege
gebracht. Gerade das Moment der Gemütspflege
hat sich die Kirche bei ihren Bildungsbestrebungen
stets angelegen sein lassen, wie auch von objektiv
denkenden Beurteilern anerkannt wird (Reyer
S. 83). Es waren besonders die Jesuiten, welche
in ihren Gymnasien die dramatischen Auffüh-
rungen pflegten; Goethe hat ihnen darüber seine
vollste Anerkennung ausgesprochen (Hahn, Jugend-
klubs 32 f). Daß auch der Sinn für die Natur in
den lohnarbeitenden Klassen durch gemeinsame
Feste, Ausfluge gepflegt werden soll, ist klar; doch
verlassen wir damit schon das Gebiet der Bil-
dungsbestrebungen.
Auf katholischer Seite hat sich namentlich der
Volksverein für das katholische Deutschland des
Volksbildungswesens angenommen. Vorbildlich
sind die seit 1902 in Köln von den Arbeiter-
vereinen und christlichen Gewerkschaften veranstal-
teten Volksbildungsabende. Es werden dort dem
Volk wahrhaft künstlerische Aufführungen gegen
ein Eintrittsgeld von 10 oder 20 Pf. geboten.
Die besten Künstler und Künstlerinnen wirken
mit, und wie Augenzeugen versichern, ist es eine
Freude, die Begeisterung und das Verständnis
zu sehen, mit denen die künstlerischen Leistungen
aufgenommen werden. llber die ganze Bewegung
auf katholischer Seite vgl. Otto Müller, Volks-
bildungsabende und die geistige Bildung des
Arbeiterstands (Soziale Tagesfragen, heraus-
gegeben vom Volksverein für das katholische
Deutschland).
Volksbildung.
912
Der springenden Punkt in dem Verhältnis der
Arten der Volksbildung zu den bloßen Volksunter-
haltungen bezeichnet der bekannte Sozialpolitiker
Stadtrat Flesch (Zeitschr. der Zentralstelle (1897),
Nr 24, S. 285) damit: „Die Beteiligung der
Arbeiter an den Forschungen der Wissenschaft
(Volksvorlesungen), die Darbietung der Meister-
werke der Musik (Volkskonzerte), der Bühne (Volks-
vorstellungen), der bildenden Kunst (Museums-
besuch, Führungen usw.) sind Dinge der bedeut-
samsten Art, welche sich den Bemühungen auf dem
großen Gebiet der Kulturinteressen, den Bestre-
bungen zur Verwirklichung der politischen Gleich-
berechtigung und sozialen Gleichstellung anreihen,
indem sie den Arbeitern etwas geben, was sie
derzeit nicht haben und sich zurzeit als Arbeiter
nie schaffen können. Die Veranstaltung bloßer
Volksunterhaltungen, d. h. also hübscher, den
Anforderungen des Geschmacks und der Sittlich-
keit entsprechenden Nachmittagsvergnügungen ist
gewiß nicht gleichgültig, da sie insbesondere er-
ziehlich im Sinn der Mäßigkeitsbestrebungen,
Antialkoholbestrebungen usw. wirken können.
Aber sie geben den Arbeitern nichts, was dieselben
sich nicht schon jetzt verschaffen könnten. Sie weisen
den Vermögenden die Rolle der Bevormundenden
und Spendenden anstatt der Stellung von gleich-
berechtigten Mitarbeitern zu. Die Befürchtung
ist, daß sie gelegentlich, vielleicht gegen den Willen
der Veranstalter, benutzt werden, um an die Stelle
der großen Aufgabe der Erhebung der Unbemit-
telten zur Gleichberechtigung die sozial relativ
unerhebliche der Beruhigung der unteren Klassen,
der bloßen Sicherung der Vermögenden zu setzen“
(Albrecht, Fünf Jahre praktisch-sozialer Tätig-
keit 29 f).
Besonders wäre es im Interesse der Sittlichkeit
freudig zu begrüßen, wenn es gelänge, durch eine
veredelte Volksunterhaltung eine Besserung in den
Beziehungen der Geschlechter herbeizuführen, die
ja in allen Schichten des Volls, oben wie unten,
so nottut. Ein so erfahrener Volkswirt und
Menschenfreund wie Viktor Böhmert äußert in
einer Abhandlung: „Die Erholungen der Arbeiter
außer dem Hause“ (S. 13) die Meinung, die
Geschlechter sollen nicht ängstlich getrennt, son-
dern auf dem Boden reiner Freuden zusammen-
geführt werden. Namentlich sollte der Bildung
des weiblichen Geschlechts mehr Interesse ent-
gegengebracht werden. Er befürwortet darum die
Begründung von Frauen= oder Mädchenheimen
für Arbeiterinnen, von Haushaltungskursen usw.
„Die Erholungen der Arbeiterinnen, namentlich
der Fabrikmädchen, liegen weit mehr im argen
als die Erholungen der Männer und Jünglinge.
Die männliche Jugend ist zum Teil von einem
lebhaften Bildungsdrang bescelt. Die Beschäf-
tigung der Männer und Jünglinge mit Politik,
soviel Unklares und Unreifes auch dabei mit unter-
läuft, ist doch immer noch der Völlerei, Trunk-
sucht und Unsittlichkeit, zu welcher Kneipen und