Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

77 
3. Moderne Verfassungsurkunden 
(Geschichte; Interpretation; Inhalt). Unter den 
zivilisierten Staaten gibt es heute keinen mehr, 
der in vollem Umfang ohne geschriebene Ver- 
assung ist. Wohl gibt es Staaten ohne Ver- 
fassungsurkunden (England, Ungarn) und ohne 
formelle Verfassungsgesetze, aber ein Teil der ma- 
eriellen Verfassungsrechte ist heute überall kodi- 
fiziert. 
In der Geschichte der politischen For- 
derung einer Verfassungsurkunde spielte lange 
Zeit der Hinweis auf die Institution eines 
Landes eine große Rolle, das selber bis heute 
noch keine Verfassungsurkunde hat; es war der 
Hinweis auf die englische Magna Charta vom 
Jahr 1215. Man hat zwar in neuester Zeit 
schärfer festgestellt, daß im Lauf der Zeit und ge- 
rade bei späteren politischen Kämpfen manches 
erst in die Magna Charta hineininterpretiert 
wurde, daß manche Illusionen über die ursprüng- 
liche Bedeutung derselben sich allmählich heraus- 
bildeten; man hat insbesondere energischer auf den 
Charakter lehnsrechtlicher Auseinandersetzung hin- 
gewiesen, daß die Barone nämlich weniger 
staatsrechtliche Garantien oder gar eine Landes- 
repräsentation als vielmehr Erleichterung lehns- 
rechtlicher Leistungen erstrebten. Aber trotz allem 
bleibt bestehen, daß die Magna Charta in der 
Geschichte der Anschauungen und Vorstellungen 
von der Bedeutung einer Verfassungsurkunde eine 
große Rolle gespielt hat und daß sie doch viele 
Entwicklungskeime enthielt, in deren weiterer 
Entfaltung man in der modernen Zeit den Wert 
einer Verfassungsurkunde erblickt (uogl. Ludwig 
Rieß, Die Legende von der Nagna Charta, 
in Preuß. Jahrb. 141 (1910] II 222/238; 
R. Schmidt a. a. O. II, 2. TI (19031) 490 ff; 
W. Nothschild, Der Gedanke der geschriebenen 
Verfassung in der englischen Revolution (1903.). 
Die ersten Verfassungsurkunden im modernen 
Sinn entstanden 1776 und in den folgenden 
Jahren in den unabhängig gewordenen Kolonien 
Nordamerikas, nachdem diese schon unter englischer 
Herrschaft als Vorläufer der Verfassungsurkunden 
ihre Charten oder Freiheitsbriefe besessen hatten. 
In Europa war die erste Verfassungsurkunde die 
französische Verfassung vom 3. Sept. 1791; sie 
ist entstanden durch die Verfassungsgesetzgebung 
von 1789 bis 1791, deren Resultat zum Schluß 
in ein einheitliches Instrument zusammengefaßt 
wurde. Diese Verfassung von 1791 ist für die 
Folgezeit sehr bedeutsam geworden als Vorbild 
solcher monarchischer Verfassungen, die auf dem 
demokratischen Prinzip der Volkssouveränität kon- 
struiert sind, d. h. auf der Vorstellung, daß die 
konstituierende Gewalt primär dem Volk zustehe. 
Ihr gegenüber steht als nicht minder bedeutsam 
durch ihr Prinzip und ihre Vorbildlichkeit die 
Verfassung des wiederhergestellten Königtums 
Frankreichs, die Charte constitutionelle Lud- 
wigs XVIII. vom 4. Juni 1814, die das mon- 
  
Staatsverfassung. 
  
78 
archische Prinzip als das primäre erklärt und 
lediglich konstitutionelle Beschränkungen in der 
Ausübung der monarchischen Gewalt feststellt. 
Unter dem Einfluß der Charte haben sich die 
deutschen Verfassungen aus der Zeit von 1814 bis 
1848gebildet, namentlich die der süddeutschen Staa- 
ten aus den Jahren 1818/20, nach der Julirevo- 
lution auch von einer Reihe der größeren mittel- 
und norddeutschen Staaten. Auf dem Vorbild der 
französischen monarchischen Verfassung von 1791 
mit ihrem demokratischen Prinzip ist aufgebaut 
die belgische Verfassung vom 7. Febr. 1831, und 
diese ist wieder die direkte Vorlage geworden für 
die deutschen Verfassungen seit 1848; insbeson- 
dere ist — in geschichtlich merkwürdigem Dok- 
trinarismus — die preußische Verfassung in 
ihrer Anordnung weitgehend der belgischen Ver- 
fassung nachgebildet worden (ogl. Smend, Die 
preuß. Verfassungsurkunde im Vergleich mit der 
belgischen 1904; J. Seitz, Entstehung und Ent- 
wicklung der preußischen Verfassungsurkunde im 
Jahr 1848. Mit dem bisher ungedruckten Vor- 
entwurf. Greifswalder Dissert. L19091). Ebenso 
weist die Verfassung des Deutschen Reiches den 
Einfluß der belgischen Verfassung auf. 
Die preußische Verfassung beruht kraft des 
ganzen geschichtlichen und rechtlichen Tatbestands 
auf monarchischem Prinzip, auf der Vorherrschaft 
des Monarchen, der in sich die Einheit der Staats- 
gewalt verkörpert; infolge der Anlehnung an das 
Verfassungsideal der damaligen Zeit, an die bel- 
gische Verfassung, ist dieser Grundsatz von dem 
Monarchen als Träger der einheitlichen Staats- 
gewalt in der preußischen Verfassungsurkunde nicht 
ausdrücklich ausgesprochen worden, wie es dagegen 
im preußischen Landrecht II, 13, §|1 geschehen 
war. (Ebenso in der französischen Charte von 
1814 und in der bayrischen Verfassungsurkunde 
von 1818, Tit. 2, § 1; vgl. Bornhak, Die welt- 
geschichtliche Entwicklung des Konstitutionalismus, 
in Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, 
Kunst und Technik II (1908] 427/438. Eine 
eigne Auffassung der preuß. Verfassungsurkunde 
vom 31. Jan. 1850 bietet G. Anschütz, Deutsches 
Staatsrecht, in v. Holtzendorff-Kohler, Enzyklo- 
pädie der Rechtswissenschaft II I/6/1904) 476: 
schärfer und klarer als die meisten andern Staats- 
grundgesetze der Deutschen bringe sie das Prinzip 
zum Ausdruck, welches, vielfacher Anfechtung zum 
Trotz, in der Ordnung des modernen Rechts= und 
Verfassungsstaats nun doch einmal die Rolle eines 
alles tragenden konstruktiven Grundprinzips spiele: 
das Prinzip der Gewaltenteilung, Art. 45. 62. 86. 
An der Tatsache, daß wir in Preußen bzw. in 
Deutschland überhaupt de lege lata die Ge- 
waltenteilung hätten, sei nichts zu vertuschen, aber 
auch nichts zu tadeln. Denn diese Gewalten= 
teilung, so wie sie unser positives Staatsrecht auf- 
genommen hat, gefährde, entgegen einem in der 
deutschen Staatsrechtswissenschaft vielfach ver- 
breiteten Urteile, weder die Einheit und Unteil-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.