Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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überhaupt recht erlennen, so muß man die Schule 
in ihrer Stellung als Hilfsanstalt der Familie, 
der Kirche und des Staats betrachten. Die Fa- 
milie verlangt, daß die Schule leiste, was sie selbst 
aus Gründen verschiedener Art den Kindern nicht 
zu gewähren vermag. Die Eltern der meisten 
Volksschüler aber leben in engen Verhältnissen, 
ihr Blick reicht nicht weit, und das in die Augen 
Fallende erscheint ihnen als das Wichtigste. Des- 
halb verlangen sie von der Schule in erster Linie, 
sie solle das für das praktische Leben Rützliche 
pflegen und damit dem Kind das spätere Fort- 
kommen erleichtern. Dazu kommt, daß die Eltern 
die Erziehung ihrer Kinder als ihr eigenstes Recht 
in Anspruch nehmen, daß sie es sich verbitten, 
wenn die Schule das Kind in einer Richtung be- 
einflußt, die ihren Wünschen nicht entspricht. (Sie 
entziehen in einem solchen Fall das Kind der 
Schule, wenn dies in ihrer Macht steht, oder sie 
wirken doch der Arbeit der Schule nach Kräften 
entgegen.) Die Eltern verlangen also von der 
Schule in erster Linie Unterweisung in nützlichen 
Kenntnissen. Daß in Ländern mit Schulzwang 
manche Eltern im Hinblick auf die Schule sich 
überhaupt um die geistige Entwicklung der Kinder 
nicht kümmern, sondern alle Arbeit auf diesem 
Gebiet der Schule überlassen, beweist nichts gegen 
diese Tatsache. Kirche und Staat aber, die neben 
der Familie Einfluß auf die Schule besitzen, be- 
tonen energisch ihre erziehliche Aufgabe. Der 
Kirche soll sie helfen, die Kinder der ewigen Be- 
stimmung zuzuführen, dem Staat soll sie Bürger 
schaffen. Beides ist nur möglich, wenn die Schule 
die Geistesrichtung der Schüler beeinflußt und sie 
den bestimmten Zielen zuwendet, d. h. indem sie 
erzieht. Es ist nicht zu verwundern, daß man fast 
überall die Aufgabe der Schule in der Befriedi- 
gung aller drei Ansprüche sieht. Das österreichische 
Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869 spricht 
dies deutlich aus, indem es bestimmt: „Die Volks- 
schule hat zur Aufgabe, die Kinder sittlich-religiös 
zu erziehen, deren Geistestätigkeit zu entwickeln, 
sie mit den zur weiteren Ausbildung für das Leben 
erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten aus- 
zustatten und die Grundlage für die Heranbildung 
tüchtiger Menschen und Mitglieder des Gemein- 
wesens zu schaffen.“ Ahnlich drückt sich das Hand- 
buch des bayrischen Volksschulrechts von Dr Ed. 
Stingl aus: „Die Volksschulen sind öffentliche 
Anstalten, welche die für das häusliche, bürgerliche 
und kirchliche Leben notwendige Bildung zu ver- 
mitteln bestimmt sind. Sie sollen die im Eltern- 
haus begonnene religiös-sittliche Erziehung der 
Jugend während eines gewissen Lebensalters fort- 
setzen und ergänzen . gleichwie sie auch die 
Grundlage für alle Weiterbildung in den einzelnen 
Berufszweigen sind.“ Recht klar und prägnant 
finden sich diese Gedanken ausgedrückt in Art. 1 
des Schulgesetzes für das Großherzogtum Hessen 
vom 16. Juni 1874: „Die Volksschule hat die 
Aufgabe, der Jugend durch Unterricht, Ubung und 
Volksschulen. 
  
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Erziehung die Grundlagen religiös-sittlicher und 
nationaler Bildung und die für das bürgerliche 
Leben nötigen allgemeinen Kenntnisse und Fertig- 
keiten zu gewähren.“ — Wo man den Einfluß der 
Kirche auf die Schule vollständig ausschließt, da 
entfällt auch die Verpflichtung der Schule zur 
religiösen Erziehung der Schüler. Erziehung zur 
Sittlichkeit, zur Bürgertugend ist dann neben der 
Vermittlung nützlicher Kenntnisse Aufgabe der 
Schule. Neben dem Einfluß von Familie, Staat 
und Kirche ist der Einfluß der Pädagogik immer 
ein geringer gewesen. 
Die sog. „Aufklärungszeit“ schuf im Zeitalter 
der französischen Revolution die Lehre von der 
schrankenlosen Freiheit des Individuums. In die 
Pädagogik übertragen hieß dies: die Schule hat 
die in der Menschennatur liegenden Kräfte und 
Anlagen zu entwickeln, Kraftbildung ist einziges 
Ziel alles Unterrichts. Langer Zeit bedurfte es, 
um die Einseitigkeit dieser Anschauung zu über- 
winden. Die Kraft braucht Stoff, um sich zu be- 
tätigen; nicht auf die Tätigkeit an sich kommt es 
an, sondern darauf, daß diese Tätigkeit Werte 
schafft. So kam allmählich auch das materielle 
Prinzip, der Lehrstoff, wieder zu seinem Recht. 
Man betrachtete ihn nicht bloß als Mittel, woran 
sich die Kräfte der Schüler üben sollen, sondern 
als Lehrgut, dessen Aneignung für den Schüler 
Notwendigkeit ist. Die Lehrstoffe sollen seiner in- 
dividuellen Vervollkommnung dienen, aber er ist 
nicht das Maß dieser geistigen Güter, vielmehr 
sind sie das Maß seiner Leistungen, er hat an ihrer 
Ausgestaltung zu arbeiten. War so der einzelne 
Mensch mit der Vergangenheit in Verbindung ge- 
setzt, die seine Bildung bedingt, so mußte er auch 
zu der Gegenwart und Zukunft, in der sein Leben 
verläuft, in das richtige Verhältnis gebracht wer- 
den. Der einzelne ist das Glied des Ganzen, er 
hat ihm nach seiner Eigenart zu dienen; sittliches 
Handeln innerhalb der Kulturgemeinschaft wurde 
das Erziehungsziel der Pädagogik. Wenn man 
die Kirche als eine die Kulturgemeinschaft wesent- 
lich bedingende Macht auffaßt und die Erfüllung 
der religiösen Pflichten demnach auch als „sitt- 
liches Handeln innerhalb der Kulturgemeinschaft" 
ansieht, so läßt sich gegen diese Zielangabe wenig 
einwenden. Aus allem aber geht hervor, daß man 
die Erziehung durch den Unterricht als 
Hauptaufgabe der Schule zu betrachten hat. Die 
bloße „Lernschule“ existiert in keinem Kulturstaat, 
hier strebt man überall der „Erziehungsschule“ zu. 
Wenn man häufig hört, die alte Schule habe ihre 
erziehliche Aufgabe besser gelöst als die gegen- 
wärtige, so ist dies nur mit einer gewissen Ein- 
schränkung richtig. Als sich der Staat noch wenig 
um die Schule kümmerte, nahmen die Eltern die 
Erziehung der Kinder für sich in Anspruch. Sie 
sorgten dafür unter Leitung und Beihilfe der Kirche, 
die in viel größerem Maß durch die Familie und 
ihre eigne Tätigkeit als durch die Schule Einfluß 
auf die Jugenderziehung besaß. Von der Schule
	        
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