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überhaupt recht erlennen, so muß man die Schule
in ihrer Stellung als Hilfsanstalt der Familie,
der Kirche und des Staats betrachten. Die Fa-
milie verlangt, daß die Schule leiste, was sie selbst
aus Gründen verschiedener Art den Kindern nicht
zu gewähren vermag. Die Eltern der meisten
Volksschüler aber leben in engen Verhältnissen,
ihr Blick reicht nicht weit, und das in die Augen
Fallende erscheint ihnen als das Wichtigste. Des-
halb verlangen sie von der Schule in erster Linie,
sie solle das für das praktische Leben Rützliche
pflegen und damit dem Kind das spätere Fort-
kommen erleichtern. Dazu kommt, daß die Eltern
die Erziehung ihrer Kinder als ihr eigenstes Recht
in Anspruch nehmen, daß sie es sich verbitten,
wenn die Schule das Kind in einer Richtung be-
einflußt, die ihren Wünschen nicht entspricht. (Sie
entziehen in einem solchen Fall das Kind der
Schule, wenn dies in ihrer Macht steht, oder sie
wirken doch der Arbeit der Schule nach Kräften
entgegen.) Die Eltern verlangen also von der
Schule in erster Linie Unterweisung in nützlichen
Kenntnissen. Daß in Ländern mit Schulzwang
manche Eltern im Hinblick auf die Schule sich
überhaupt um die geistige Entwicklung der Kinder
nicht kümmern, sondern alle Arbeit auf diesem
Gebiet der Schule überlassen, beweist nichts gegen
diese Tatsache. Kirche und Staat aber, die neben
der Familie Einfluß auf die Schule besitzen, be-
tonen energisch ihre erziehliche Aufgabe. Der
Kirche soll sie helfen, die Kinder der ewigen Be-
stimmung zuzuführen, dem Staat soll sie Bürger
schaffen. Beides ist nur möglich, wenn die Schule
die Geistesrichtung der Schüler beeinflußt und sie
den bestimmten Zielen zuwendet, d. h. indem sie
erzieht. Es ist nicht zu verwundern, daß man fast
überall die Aufgabe der Schule in der Befriedi-
gung aller drei Ansprüche sieht. Das österreichische
Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869 spricht
dies deutlich aus, indem es bestimmt: „Die Volks-
schule hat zur Aufgabe, die Kinder sittlich-religiös
zu erziehen, deren Geistestätigkeit zu entwickeln,
sie mit den zur weiteren Ausbildung für das Leben
erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten aus-
zustatten und die Grundlage für die Heranbildung
tüchtiger Menschen und Mitglieder des Gemein-
wesens zu schaffen.“ Ahnlich drückt sich das Hand-
buch des bayrischen Volksschulrechts von Dr Ed.
Stingl aus: „Die Volksschulen sind öffentliche
Anstalten, welche die für das häusliche, bürgerliche
und kirchliche Leben notwendige Bildung zu ver-
mitteln bestimmt sind. Sie sollen die im Eltern-
haus begonnene religiös-sittliche Erziehung der
Jugend während eines gewissen Lebensalters fort-
setzen und ergänzen . gleichwie sie auch die
Grundlage für alle Weiterbildung in den einzelnen
Berufszweigen sind.“ Recht klar und prägnant
finden sich diese Gedanken ausgedrückt in Art. 1
des Schulgesetzes für das Großherzogtum Hessen
vom 16. Juni 1874: „Die Volksschule hat die
Aufgabe, der Jugend durch Unterricht, Ubung und
Volksschulen.
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Erziehung die Grundlagen religiös-sittlicher und
nationaler Bildung und die für das bürgerliche
Leben nötigen allgemeinen Kenntnisse und Fertig-
keiten zu gewähren.“ — Wo man den Einfluß der
Kirche auf die Schule vollständig ausschließt, da
entfällt auch die Verpflichtung der Schule zur
religiösen Erziehung der Schüler. Erziehung zur
Sittlichkeit, zur Bürgertugend ist dann neben der
Vermittlung nützlicher Kenntnisse Aufgabe der
Schule. Neben dem Einfluß von Familie, Staat
und Kirche ist der Einfluß der Pädagogik immer
ein geringer gewesen.
Die sog. „Aufklärungszeit“ schuf im Zeitalter
der französischen Revolution die Lehre von der
schrankenlosen Freiheit des Individuums. In die
Pädagogik übertragen hieß dies: die Schule hat
die in der Menschennatur liegenden Kräfte und
Anlagen zu entwickeln, Kraftbildung ist einziges
Ziel alles Unterrichts. Langer Zeit bedurfte es,
um die Einseitigkeit dieser Anschauung zu über-
winden. Die Kraft braucht Stoff, um sich zu be-
tätigen; nicht auf die Tätigkeit an sich kommt es
an, sondern darauf, daß diese Tätigkeit Werte
schafft. So kam allmählich auch das materielle
Prinzip, der Lehrstoff, wieder zu seinem Recht.
Man betrachtete ihn nicht bloß als Mittel, woran
sich die Kräfte der Schüler üben sollen, sondern
als Lehrgut, dessen Aneignung für den Schüler
Notwendigkeit ist. Die Lehrstoffe sollen seiner in-
dividuellen Vervollkommnung dienen, aber er ist
nicht das Maß dieser geistigen Güter, vielmehr
sind sie das Maß seiner Leistungen, er hat an ihrer
Ausgestaltung zu arbeiten. War so der einzelne
Mensch mit der Vergangenheit in Verbindung ge-
setzt, die seine Bildung bedingt, so mußte er auch
zu der Gegenwart und Zukunft, in der sein Leben
verläuft, in das richtige Verhältnis gebracht wer-
den. Der einzelne ist das Glied des Ganzen, er
hat ihm nach seiner Eigenart zu dienen; sittliches
Handeln innerhalb der Kulturgemeinschaft wurde
das Erziehungsziel der Pädagogik. Wenn man
die Kirche als eine die Kulturgemeinschaft wesent-
lich bedingende Macht auffaßt und die Erfüllung
der religiösen Pflichten demnach auch als „sitt-
liches Handeln innerhalb der Kulturgemeinschaft"
ansieht, so läßt sich gegen diese Zielangabe wenig
einwenden. Aus allem aber geht hervor, daß man
die Erziehung durch den Unterricht als
Hauptaufgabe der Schule zu betrachten hat. Die
bloße „Lernschule“ existiert in keinem Kulturstaat,
hier strebt man überall der „Erziehungsschule“ zu.
Wenn man häufig hört, die alte Schule habe ihre
erziehliche Aufgabe besser gelöst als die gegen-
wärtige, so ist dies nur mit einer gewissen Ein-
schränkung richtig. Als sich der Staat noch wenig
um die Schule kümmerte, nahmen die Eltern die
Erziehung der Kinder für sich in Anspruch. Sie
sorgten dafür unter Leitung und Beihilfe der Kirche,
die in viel größerem Maß durch die Familie und
ihre eigne Tätigkeit als durch die Schule Einfluß
auf die Jugenderziehung besaß. Von der Schule