Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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handle, die auf den Bestimmungen der Kabinetts- 
order vom 14. Mai 1825 und des Allgemeinen 
Landrechts beruhe. Die Kreis= und Lokalschul- 
inspektoren haben auch den Unterricht jener Kinder 
zu überwachen, welche nicht die öffentliche Volks- 
schule besuchen. Eine vorzeitige Entlassung aus 
der Volksschule ist fast überall möglich, wenn die 
Familienverhältnisse sie erfordern und die Kinder 
die nötige Reife erlangt haben. Hierüber ent- 
scheidet in Preußen nach Anhörung der Ortsschul- 
behörde der Kreisschulinspektor. Dagegen kann 
meistens die Schulpflicht auch über das für die 
Entlassung festgesetzte Alter ausgedehnt werden, 
wenn die mangelnde Reife des Schülers dies not- 
wendig erscheinen läßt. Durch verschiedene Straf- 
mittel kann der regelmäßige Schulbesuch säumiger 
Kinder erzwungen werden. 
Während früher der Beschäftigung schulpflichti- 
ger Kinder in Fabriken und Werkstätten nirgends 
Grenzen gezogen waren und besondere Schulein- 
richtungen mit Rücksicht auf diese Beschäftigung 
zugelassen wurden, sucht man neuerdings die ge- 
werbliche Lohnarbeit der Kinder immer mehr ein- 
zuschränken. Die Reichsgewerbeordnung gestattet 
noch die Beschäftigung schulpflichtiger 12= bis 
14jähriger Kinder täglich während sechs Stunden 
in Fabriken, wenn daneben drei Stunden Unter- 
richt erteilt wird. Die Novelle vom 1. Juni 1891 
aber verbietet allgemein eine derartige Beschäf- 
tigung schulpflichtiger Kinder. Schulentlassene 
Kinder unter 14 Jahren dürfen nach demselben 
Gesetz in Fabriken nicht mehr als sechs Stunden 
täglich arbeiten. Diese Bestimmung versetzte der 
Fabrikarbeit der Kinder den Todesstoß, ließ aber 
dafür die Kinderarbeit im Haus und auf der 
Straße zu unheimlichem Umfang anschwellen. 
Durch die Tätigkeit der Lehrervereine, namentlich 
des Volksschullehrers Konrad Agahd zu Rixdorf, 
wurde die Offentlichkeit immer wieder auf diese 
Tatsache hingewiesen. Mannigfache Polizeiver= 
ordnungen und Regierungsverfügungen suchten 
dem Übel an einzelnen Orten Einhalt zu tun. 
Endlich wurde am 30. März 1903 das Gesetz 
betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben 
erlassen. (Das Nähere findet sich in dem Art. 
Kinderschutzgesetzgebung Bd III, Sp. 90.) 
Die Volksschule muß alle Kinder ihres Bezirks 
aufnehmen. Nun ist aber die Verwahrlosung in 
jugendlichem Alter durchaus nicht selten und damit 
die Gefahr gegeben, daß ganze Schulklassen durch 
verdorbene Kinder angesteckt und auf den Weg des 
sittlichen Verderbens gebracht werden. Darum 
bestehen in fast allen Kulturstaaten Gesetze, welche 
die Ausscheidung derartiger Elemente und ihre 
Unterbringung in geschlossenen Anstalten ermög- 
lichen. In Preußen machte das Gesetz vom 
13. März 1878 eine solche Maßregel nicht allein 
von der nachgewiesenen Verwahrlosung abhängig, 
sondern Zwangserziehung konnte nur dann an- 
gewendet werden, wenn ein verwahrlostes Kind 
vor vollendetem zwölften Lebensjahr eine straf- 
Volksschulen. 
  
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bare Handlung beging. Durch das Gesetz be- 
treffend Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 
2. Juli 1900 ist diese Beschränkung aufgehoben 
worden. Jetzt kann der Vormundschaftsrichter ein 
Kind zur Fürsorgeerziehung überweisen, wenn die 
Eltern ihre Erziehungsgewalt mißbrauchen, wenn 
sich die erziehliche Einwirkung des Elternhauses 
oder anderer Erzieher zur Verhütung des sittlichen 
Verderbens als unzulänglich erweist und selbst- 
verständlich auch in jenen Fällen, in denen schon 
nach dem früheren Gesetz eine Überweisung zu- 
lässig war (vgl. d. Art. Fürsorgeerziehung Bd II, 
Sp. 347 f.l. 
In neuerer Zeit widmet man der gesundheit- 
lichen Förderung der Schuljugend ein großes 
Interesse. Namentlich sind es die Großstädte, 
deren Schulkinder häufig in durchaus unzureichen- 
den Wohnräumen aufwachsen und sich nicht durch 
Beschäftigung oder fröhliches Spiel in freier Luft 
genügend erholen können. Man sucht diesen hem- 
menden Momenten durch mannigfache Veranstal- 
tungen ein Gegengewicht zu bieten. Schon seit 
längerer Zeit (in Preußen durch eine Kabinetts- 
order vom 6. Juni 1842) ist das Turnen für die 
Knaben eingeführt; die Großstädte sorgen auch 
für das Turnen der Mädchen, das sonst noch 
wenig verbreitet ist. Besondere Spielplätze und 
Eisbahnen sind an vielen Orten eingerichtet, 
Ferienkolonien werden entsandt, Schulausflüge 
unternommen. Man schafft Badegelegenheit für 
die Schuljugend, manchmal durch besondere Schul- 
bäder. Kinderheilstätten und Genesungsheime, 
Seehospize für Kinder werden immer zahlreicher 
gegründet. Einen bedeutenden Einfluß erwartet 
man für die gesundheitliche Förderung der Schul- 
jugend von der Anstellung besonderer Schulärzte. 
Durch die Dienstanweisung für Kreisärzte vom 
23. März 1901 sind alle preußischen Schulen in 
gesundheitlicher Beziehung der Uberwachung des 
Kreisarztes unterstellt. Dieser hat jede Schule 
innerhalb eines fünfjährigen Zeitraums einmal 
eingehend zu besichtigen, sein Gutachten bei Neu- 
bauten abzugeben, die Schließung der Schulen 
beim Ausbruch ansteckender Krankheiten zu be- 
wirken. In größeren Städten betraut man prak- 
tische Arzte mit der Aussicht über die Schulen. 
Sie haben alle Schulanfänger zu untersuchen, 
ungeeignete zurückzustellen, für kranke einen 
Überwachungsschein auszufertigen, die Schule in 
regelmäßigen Zwischenräumen zu besichtigen, auf 
Ansuchen schulsäumige Kinder in Bezug auf ihren 
Gesundheitszustand zu untersuchen. 
5. Schulorganisation. Durch den Lernzwang 
sind Kinder aller Konfessionen und beider Ge- 
schlechter bis zu einem gewissen Alter zum Besuch 
der allgemeinen Volksschule genötigt, sofern sie 
nicht höhere Schulen besuchen oder Privatunter- 
richt erhalten. Angesichts dieses zwar nicht ab- 
soluten, aber doch relativen Zwangs muß vom 
christlichen Standpunkt aus die Forderung der 
Konfessionsschule erhoben werden. Wenn die
	        
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