Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gesetzgebung die Minoritäten in einem Staat nicht 
immer gegen Majorisierung schützen, aber wertlos 
sind sie gegenüber Zufallsmajoritäten und parlamen- 
tarische Uberrumpelungsversuchen durchaus nicht. 
Bedeutend verstärkt werden diese Hemmungen 
durch das Vorhandensein retardierender Momente 
im ganzen Gesetzgebungsapparat des Staats über- 
haupt (Erste Kammer). Die beste Garantie der 
Verfassung bilden freilich die sozialen Mächte, die 
hinter ihr stehen und sie schützen; umgekehrt kann 
den sozialen und gesellschaftlichen Mächten in ihrem 
wechselseitigen Kampf die formale Anerkennung 
und Hochachtung der fixierten Verfassung geradezu 
als letztes Verständigungsinstrument dienen. 
5. Verfassungsänderung und Ver- 
fassungswandlung. Iun absoluter Starr- 
heit und Unabänderlichkeit läßt sich keine Ver- 
fassung erhalten. Das Staatsleben bringt von 
selbst neue Verhältnisse und schafft neue Bedürf- 
nisse; dazu kommt, daß es wohl kaum möglich ist, 
eine Verfassung von vornherein systematisch so 
auszubauen, daß nicht gewisse „Verfassungs- 
lücken“ — wenn auch nicht von großer Trag- 
weite — vorhanden sind. 
Gerade gegenüber der beabsichtigten Stabilität 
der Verfassungstexte erscheint es staatsrechtlich be- 
deutsam, daß die modernen Verfassungen nicht bloß 
solche Anderungen erfahren haben und erfahren, 
die bewußt vorgenommen werden und mit einer 
beabsichtigten Anderung der Verfassungstexte ver- 
bunden sind. Nach Ausweis des geschichtlichen 
Staatslebenserfahren vielmehr unsere Verfassungen 
auch eine Reihe von solchen Veränderungen, welche 
die Verfassungstexte formell unverändert fort- 
bestehen lassen und die vielfach geschaffen sind durch 
das Staatsleben, ohne daß das Bewußtsein einer 
beabsichtigten Verfassungsänderung vorliegt oder 
vorliegen muß. 
Man hat für diese letztere Art der Verfassungs- 
änderung den Ausdruck Verfassungswandlung ge- 
prägt, während die beabsichtigte, mit Textesände- 
rung verbundene mit dem Namen Verfassungs- 
änderung schlechtweg bezeichnet werden soll (vgl. 
dazu besonders Jellinek, Verfassungsänderung und 
Verfassungswandlung (1906)). 
Bei der bewußten Anderung von Ver- 
fassungsgesetzen oder der Verfassungsände- 
rung schlechtweg ist der dreifache formale Weg 
möglich, wie bei Anderung von Gesetzen überhaupt. 
Verfassungsgesetze können nämlich gänzlich auf- 
gehoben werden, einen andern Wortlaut erhalten 
oder durch nachfolgende derogierende Gesetze außer 
Kraft gesetzt werden. 
Der letztere Weg ist z. B. benutzt in den Ver- 
einigten Staaten von Amerika; dort ist an dem 
Text der Verfassungsurkunde von 1787 bis heute 
nichts geändert, wohl aber sind eine Reihe Zu- 
sätze hinzugekommen, die einige Bestimmungen 
des Hauptinstruments inhaltlich ändern. Im 
Deutschen Reich sind so mannigfaltige ÄAnde- 
rungen durch nachfolgende Gesetze getroffen wor- 
Staatsverfassung. 
  
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den, so daß man aus dem Text der Verfassung 
noch kein zutreffendes Bild von den Grundlagen 
des Reichs sich machen kann. Man hat nicht ganz 
ohne Grund gesagt, die Reichsverfassungsurkunde 
habe allmählich den Charakter eines Fragments 
erhalten, das uns nur von einem Teil der grund- 
legenden Institutionen des Reichs berichte. Im 
ersten Artikel ist die Rede vom Reichsgebiet. Das 
Reichsland Elsaß-Lothringen ist nicht erwähnt. 
Die Gesamtzahl der Reichstagsabgeordneten wird 
im Artikel 20 mit 382 angegeben, während sie tat- 
sächlich 397 beträgt, da noch 15 Abgeordnete von 
Elsaß-Lothringen hinzugekommen sind. Artikel 17 
erklärt den Reichskanzler allein zur Gegenzeich- 
nung der kaiserlichen Akte zuständig; das Stell- 
vertretungsgesetz vom 17. März 1878 läßt die 
Gegenzeichnung durch Stellvertreter des Reichs- 
kanzlers zu (weitere Beispiele bei Jellinek a. a. O. 6 
A. 2.) Ganz merkwürdig durchlöchert sind die 
Verfassungsurkunden in den deutschen Bundes- 
staaten, da ein großer Teil ihrer Sätze durch 
Reichsrecht ersetzt ist. Einen Verfassungstext, der 
mit dem bestehenden Rechtszustand in Einklang 
gebracht worden ist, haben die Hansestädte Lübeck 
und Hamburg; am „korrektesten“ ist der Text der 
lübeckischen Verfassung vom 7. April 1875. Die 
andern Staaten schleppen manchen Ballast auf- 
gehobener Gesetze in ihren Verfassungsurkunden 
mit fort. 
Von den Verfassungsänderungen, die durch for- 
melle Gesetzgebungsakte begründet werden, sind zu 
unterscheiden die Verfassungsänderungen, die wir 
oben als Verfassungswandlunger bezeichnet 
haben. Durch sie wird die bestehende Verfassung 
geändert und materielles Verfassungsrecht ge- 
chaffen ohne Benutzung des Gesetzgebungsappa- 
rats. Und zwar tritt diese Verfassungswandlung 
wesentlich auf doppelte Weise in die Erscheinung. 
Einmal durch Wandlung in der Auffassung und 
Interpretation der formalen Verfassungsbestim- 
mungen; sodann treten unter dem Schwergewicht 
der Notwendigkeit auch solche tatsächliche Ande- 
rungen im Verfassungsleben ein, die keine Deckung 
in geänderter Interpretation der Bestimmungen 
suchen oder finden. 
Wandlung in der Interpretation formaler Ver- 
fassungsbestimmungen kann durch etwas herbeige- 
führt werden, was auf den ersten Blick das Gegen- 
teil von Veränderung zu bedeuten scheint, nämlich 
durch gleichbleibende Praxis auf dem Gebiet des 
dispositiven Verfassungsrechts, insofern nämlich 
durch diese gleichbleibende Praxis schließlich eine 
bestimmte Ausführungsmöglichkeit als die allein 
vom Gesetzgeber intendierte erscheint, während 
ursprünglich der Verfassungswortlaut Freiheit der 
Wahl gelassen hat. Die Verfassungswandlung ist 
hier also identisch mit der Einschränkung ursprüng- 
licher dispositiver Freiheit. 
Eine viel weiter gehende Bedeutung kann die 
Verfassungswandlung durch geänderte Interpre- 
tation der Verfassungsbestimmungen da erlangen, 
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