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ist, muß der Unterricht naturgemäß in besondern
Anstalten durch besonders vorgebildete Lehrer ge-
geben werden; besondere Einrichtungen sind er-
sorderlich, um die Kinder für ein Gewerbe aus-
zubilden. Der Unterricht dauert 8 Jahre, kann
aber im Bedürfnisfall auf 11 Jahre ausgedehnt
werden. Er ist grundsätzlich konfessionell.
Wenn auch der Wert der vielklassigen Schule
in Hinsicht auf den Unterricht unzweifelhaft fest-
steht, so ist dies nicht in gleichem Maß für den
erziehlichen Charakter der Schule der Fall. Außer
dem Unterricht, dessen erziehliche Bedeutung in
der Erzielung eines einheitlichen, auf das Ideale
gerichteten Vorstellungskreises besteht, ist die Ge-
wöhnung das wichtigste Erziehungsmittel der
Schule. Sowohl die Einheitlichkeit des Unterrichts
als auch die Stetigkeit der Gewöhnung erleiden
Schaden, wenn ein zu häufiger Wechsel in der
Person des Erziehers stattfindet. Dies ist die
schwache Seite der mehrklassigen Schule. Wohl
hält man hier noch am Klassenlehrersystem fest,
d. h. jeder Lehrer unterrichtet in sämtlichen Unter-
richtsgegenständen einer Klasse. Aber auch hierbei
tritt jährlich ein Wechsel ein. Dazu kommt, daß die
Lehrpläne vieler mehrklassigen Schulen die Unter-
richtsziele sehr hoch schrauben und es dadurch
manchem Lehrer unmöglich machen, in allen Gegen-
ständen der Oberstufe zu unterrichten. Aus diesem
Grund ist vielfach ein beschränktes Fachlehrer-
system eingeführt, und es fehlt nicht an Stimmen,
welche die vollständige Durchführung des Fach-
lehrersystems für eine absolute Notwendigkeit er-
klären. Doch ist dies unbedingt eine Überschätzung
der intellektuellen Bildung; die Wirkung der
Lehrerpersönlichkeit, auf welcher schließlich der Er-
solg alles Unterrichts beruht, kann dann nur eine
geringe sein. Es gelingt dem Lehrer in der be-
schränkten Zeit nicht, genügenden Einfluß auf die
Schüler zu erlangen, die zahlreichen Erzieher geben
dem Kind Anlaß zur Vergleichung und Beurtei-
lung, bei welcher, dem Bildungsgrad der Kinder
entsprechend, Außerlichkeiten von ausschlaggeben-
der Bedeutung sind. So wird die Autorität des
Lehrers untergraben und bedenkliche Frühreife
hervorgerufen. Die Durchführung der Klassen,
bei welcher ein Lehrer dieselben Kinder mehrere
Jahre unterrichtet, wird an den mehrklassigen
Schulen nur in bescheidenem Umfang angewandt.
Sie erscheint als ein wirksames Mittel, die unter-
richtlichen Vorteile der mehrklassigen Schule mit
den erziehlichen Vorzügen der einklassigen zu ver-
binden.
Da die Schulorganisation in erster Linie von
der Schülerzahl abhängt, so finden wir nicht nur
in Deutschland, sondern überhaupt in allen Län-
dern ähnliche Einrichtungen wie in Preußen. In
dünn bevölkerten Landstrichen (Schweden, Nor-
wegen, Spanien, Teilen Osterreichs) werden ver-
schiedene Noteinrichtungen erforderlich, in
andern Fällen macht die gewerbliche und land-
wirtschaftliche Beschäftigung der Kinder besondere
Volksschulen.
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Schuleinrichtung dig. Seitdem in Deutsch-
land die Kinderarbeit in Fabriken untersagt wor-
den ist, sind die in andern Ländern noch vorhan-
denen „Fabrikschulen" verschwunden, dagegen gibt
es noch einige sog. „Hüteschulen“ für Kinder mit
landwirtschaftlicher Beschäftigung. Eine Eigen-
tümlichkeit Osterreichs bilden die Bürgerschulen,
in welche die Volksschüler nach fünfjährigem Be-
such der Trivialschule übertreten können, um dort
während der drei letzten Schuljahre einen weiter
gehenden Unterricht zu empfangen.
Einen gewissen Vergleich in Bezug auf den
Stand des Volksschulwesens in verschiedenen Län-
dern gewährt die Angabe der Schülerzahl, die
durchschnittlich auf eine Lehrkraft entfallen. Sie
beträgt für 1901 in Preußen 63 (für 1906: 59),
in Bayern 57, in Württemberg 58, in Elsaß-
Lothringen 43, in Lübeck 34, in Hamburg 37, in
Bremen 47, in ganz Osterreich 65, in Böhmen
58, in Niederösterreich 51, in Holland 37. In
Dänemark ist 35, in Norwegen 40 als Höchst-
zahl festgesetzt.
In vielen Staaten bestehen Anstalten für das
vorschulpflichtige Alter. Eigentlicher Unterricht
wird in ihnen meist nicht erteilt. Sie fallen des-
halb nicht unter den Begriff der Volksschule und
bleiben hier unberücksichtigt. Eine immer steigende
Bedeutung erlangen die Fortbildungsschulen. Das
Nähere s. dies. Art. (Bd II, Sp. 220). Hier sei
nur ergänzend bemerkt, daß das Streben, den
Fortbildungsschulbesuch obligatorisch zu machen,
auch in landwirtschaftlichen Kreisen immer mehr
hervortritt. Dem preußischen Gesetz vom 8. Aug.
1904, welches den Gemeinden der Provinz Hessen-
Nassau ermöglichte, durch Ortsstatut den Besuch
einer ländlichen Fortbildungsschule zur Pflicht zu
machen, folgte ein entsprechendes Gesetz für die
Provinz Hannover vom 25. Jan. 1909 und für
die Provinz Schlesien vom 2. Juli 1910. Ein
im Jahr 1911 dem preußischen Abgeordnetenhaus
vorgelegter Gesetzentwurf, der die Errichtung von
Fortbildungsschulen in allen Gemeinden mit
10 000 Einwohnern und darüber vorschrieb, und
alle männlichen, unter 18 Jahren alte, in öffent-
lichen oder privaten Diensten beschäftigte Personen
zum Besuch derselben verpflichtete, wurde von der
Regierung fallen gelassen, nachdem sich in der vor-
beratenden Kommission eine Mehrheit für die
Einführung eines obligatorischen Religionsunter-
richts auf Antrag des Schulvorstands ausgesprochen
und eine Mitwirkung des Kultusministers (neben
dem Handelsminister) bei der Ausführung des
Gesetzes vorgesehen hatte.
6. Der Lehrplan. Erst allmählich und an der
Hand einer langen Erfahrung hat der Lehrplan
der Volksschule die Gestalt angenommen, die er
heute besitzt. Er gliedert sich in der Hauptsache
nach drei Gesichtspunkten. Seinen Kern bilden
die sog. ethischen Fächer Religion, Deutsch und
Geschichte unter Hinzutritt von Rechnen nebst den
Anfängen der Raumlehre. Daneben stehen die
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