Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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wo eine Instanz berufen ist, direlt oder indirekt 
authentische Urteile über den Sinn der Verfassungs- 
sätze abzugeben. Dies ist der Fall in den Ver- 
einigten Staaten von Amerika, wo der Richter 
auch über die materielle Verfassungsmäßigkeit der 
Gesetze zu entscheiden hat. Unter dem Bestreben, 
die Verfassungsurkunde möglichst unversehrt zu 
lassen, hat sich in der Union die richterliche Kunst 
herausgebildet, die Verfassungssätze zu deuten, zu 
dehnen und zu weiten. Nur so konnte die Ver- 
fassung dem Fluß des tatsächlichen Lebens und 
seinen Bedürfnissen gerecht werden. Als Hilfs- 
mittel dieser Deutungskunst dient die Theorie der 
amerikanischen Juristen von den implied powers 
oder den eingewickelten Gewalten. „In dem Buch- 
staben der Verfassung schlummern bisher uner- 
kannte Gewalten, die von der Gesetzgebung ent- 
deckt und sodann vom Richter definitiv zum Leben 
erweckt werden“ (Jellinek a. a. O. 20). Wenn 
kein Land der Welt so wenig verfassungsändernde 
Gesetze aufzuweisen hat wie die amerikanische 
Union, so ist dieses Beharren doch nur ein 
scheinbares, weil doch tatsächlich die Verfassung 
durch richterliche Interpretation in weitem Um- 
fang geändert und gewandelt wird. Nicht ganz 
mit Unrecht spricht man in Amerika von den Ge- 
richten als von dem dritten Haus der Legislatur, 
das durch Deutung der Verfassung an sich ver- 
fassungswidrige Gesetze zu verfassungsmäßigen 
umwandelt. 
Als zweite Form der Verfassungswandlungen 
kommen solche tatsächliche Anderungen im Ver- 
fassungsleben in Bewaacht, die einfach unter dem 
Schwergewicht der Notwendigkeit eintreten, ohne 
daß sie eine nachträgliche Deckung in geänderter 
Interpretation der Bestimmungen suchen oder 
finden. 
Als Beispiel aus dem Verfassungsleben des 
Deutschen Reichs sei erwähnt die Ausbildung der 
kaiserlichen Initiative in der Gesetzgebung. Nach 
der Verfassung haben nur Bundesglieder das 
Recht, Vorschläge im Bundesrat zu machen, also 
nicht der deutsche Kaiser als solcher, sondern nur 
der König von Preußen. Vorschläge der „Reichs- 
regierung“ sind nicht vorgesehen. Nun sind aber 
die einzelnen Bundesglieder, auch Preußen nicht, 
gar nicht in der Lage, einen großen Teil der das 
Reich betreffenden Vorlagen ausarbeiten zu lassen; 
dazu bedarf es der Reichsbehörden, die dafür be- 
stimmt sind und vom Reichskanzler dazu beauf- 
tragt werden. Es hat sich daher naturnotwendig 
die Praxis herausgebildet, daß diese Vorlagen 
dann auch vom Reichskanzler als solchem im 
Namen des Kaisers an den Bundesrat gebracht 
werden. Es gibt nunmehr neben den preußischen 
Vorschlägen an den Bundesrat auch kaiserliche 
Vorschläge oder Anträge der Reichsregierung. 
Damit hat die Reichsversassung eine bedeutsame 
Anderung erfahren, ohne daß der Text einen dies- 
bezüglichen Zusatz erhalten hätte. (Gegen diese 
Auffassung der sog. Präsidialanträge als Doku- 
Staatsverfassung. 
  
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mente „für die gewohnheitsrechtliche Entwicklung 
einer kaiserlichen Initiative im Bundesrat“ u. a. 
Anschütz in v. Holtzendorff-Kohler, Enzyklopädie 
der Rechtswissenschaft II7 543; weitere Literatur 
zur „Streitfrage“ über die sormal-juristische Exi- 
stenz der kaiserlichen Initiative bei Jellinek, All- 
gemeine Staatslehre: 523.) 
Zu dieser Art der Verfassungsänderung gehört 
auch die Tatsache, daß der Bundesrat aufgehört 
hat, eine periodisch einberufene und geschlossene 
Versammlung zu sein, wie es Artikel 12 der Reichs- 
verfassung im Auge hat. (lber solche Verfassungs- 
wandlungen in der Nordamerikanischen Union vgl. 
Jellinek a. a. O.) 
Literatur. Für die Frage der Verfassung 
im formalen Sinn: Jellinek, Allgemeine 
Staatslehre (21905), 15. Kap.: Die S. 491/525. 
Dort auch weitere Literaturangaben. Über die 
materielle Bedeutung der Verfassung: R. 
Schmidt, Allgemeine Staatslehre 1 (1901) § 24: 
Die formellen Rechtsgarantien im Staatsleben 
201/217; II (1903) 2. TI: Verfassungsgrundlagen 
des modernen Staats 878.886. Rehm, Allgemeine 
Staatslehre (1899) 11. Abschnitt: Die repräsen- 
tative Demokratie 285/347; 12. Abschnitt: Die 
repräsentative Monarchie 348/356. 
Über Verfassungswandlung: Jellinek, Ver- 
fassungsänderung u. Verfassungswandlung (1906); 
dazu das vorgängige Werk Labands, Wandlungen 
der deutschen Reichsverfassung (1895). über die 
Verfassungsentwicklung im Organismus des Deut- 
schen Reichs, über ihre Ziele u. Notwendigkeiten 
vgt g. Spahn, Das deutsche Zentrum (1907) 
106 ff. 
über Verfassungslücken: Jellinek, All- 
gemeine Staatslehre (21905) 347 ff; dazu Anschütz, 
Lücken in Verfassungs= u. Verwaltungsgesetzen, im 
Verwaltungsarchiv XIV (1906) 315 ff; H. Triepel, 
Die Kompetenzen des Bundesstaats u. die ge- 
schriebene Verfassung. Festgabe für Laband (1908) 
2, 247/335. 
Aus der Geschichte der Verfassungs- 
urkunden sei Jellinek, Die Erklärung der Men- 
schen- u. Bürgerrechte (Ein Beitrag zur modernen 
Verfassungsgeschichte, 1904) hier angemerkt wegen 
der daselbst vertretenen Theorie, die Erklärungen 
der Bürger- u. Menschenrechte in den ältesten mo- 
dernen Verfassungsurkunden, denen der amerikani- 
schen Kolonien, sei protestantischer Auffassung von 
religiöser Freiheit, näherhin puritanisch-religiösen 
Prinzipien entsprungen. Gegen diese Theorie Jel- 
lineks vgl. die historischen Feststellungen von Niko- 
laus Paulus, Die Erklärung der Menschenrechte u. 
der Protestantismus, in der Lit. Beilage der Köln. 
Volkszeitung 1906, Nr 39; 1910, Nr 16; Histor.= 
polit. Blätter CXXXV (1905) 626 ff; ebenso bei 
G. Hägermann, Die Erklärung der Menschen= u. 
Bürgerrechte in den ersten amerikanischen S. (1910); 
A. Wahl, Histor. Zeitschrift ClII (1909) 79 f. 
Eine weit über den sormalen Titel des Werkes 
ausgreifende klare Entstehungsgeschichte der mo- 
dernen konstitutionellen Ideen bietet der I. Bd 
(1907) von Ernst v. Meier, Französische Einflüsse 
auf die Staats- u. Rechtsentwicklung Preußens im 
19. Jahrh. (Abschn. 1I, Kap. 2 auch die Verfas- 
sungen der Vereinigten Staaten). [Adolf Ou..] 
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