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wo eine Instanz berufen ist, direlt oder indirekt
authentische Urteile über den Sinn der Verfassungs-
sätze abzugeben. Dies ist der Fall in den Ver-
einigten Staaten von Amerika, wo der Richter
auch über die materielle Verfassungsmäßigkeit der
Gesetze zu entscheiden hat. Unter dem Bestreben,
die Verfassungsurkunde möglichst unversehrt zu
lassen, hat sich in der Union die richterliche Kunst
herausgebildet, die Verfassungssätze zu deuten, zu
dehnen und zu weiten. Nur so konnte die Ver-
fassung dem Fluß des tatsächlichen Lebens und
seinen Bedürfnissen gerecht werden. Als Hilfs-
mittel dieser Deutungskunst dient die Theorie der
amerikanischen Juristen von den implied powers
oder den eingewickelten Gewalten. „In dem Buch-
staben der Verfassung schlummern bisher uner-
kannte Gewalten, die von der Gesetzgebung ent-
deckt und sodann vom Richter definitiv zum Leben
erweckt werden“ (Jellinek a. a. O. 20). Wenn
kein Land der Welt so wenig verfassungsändernde
Gesetze aufzuweisen hat wie die amerikanische
Union, so ist dieses Beharren doch nur ein
scheinbares, weil doch tatsächlich die Verfassung
durch richterliche Interpretation in weitem Um-
fang geändert und gewandelt wird. Nicht ganz
mit Unrecht spricht man in Amerika von den Ge-
richten als von dem dritten Haus der Legislatur,
das durch Deutung der Verfassung an sich ver-
fassungswidrige Gesetze zu verfassungsmäßigen
umwandelt.
Als zweite Form der Verfassungswandlungen
kommen solche tatsächliche Anderungen im Ver-
fassungsleben in Bewaacht, die einfach unter dem
Schwergewicht der Notwendigkeit eintreten, ohne
daß sie eine nachträgliche Deckung in geänderter
Interpretation der Bestimmungen suchen oder
finden.
Als Beispiel aus dem Verfassungsleben des
Deutschen Reichs sei erwähnt die Ausbildung der
kaiserlichen Initiative in der Gesetzgebung. Nach
der Verfassung haben nur Bundesglieder das
Recht, Vorschläge im Bundesrat zu machen, also
nicht der deutsche Kaiser als solcher, sondern nur
der König von Preußen. Vorschläge der „Reichs-
regierung“ sind nicht vorgesehen. Nun sind aber
die einzelnen Bundesglieder, auch Preußen nicht,
gar nicht in der Lage, einen großen Teil der das
Reich betreffenden Vorlagen ausarbeiten zu lassen;
dazu bedarf es der Reichsbehörden, die dafür be-
stimmt sind und vom Reichskanzler dazu beauf-
tragt werden. Es hat sich daher naturnotwendig
die Praxis herausgebildet, daß diese Vorlagen
dann auch vom Reichskanzler als solchem im
Namen des Kaisers an den Bundesrat gebracht
werden. Es gibt nunmehr neben den preußischen
Vorschlägen an den Bundesrat auch kaiserliche
Vorschläge oder Anträge der Reichsregierung.
Damit hat die Reichsversassung eine bedeutsame
Anderung erfahren, ohne daß der Text einen dies-
bezüglichen Zusatz erhalten hätte. (Gegen diese
Auffassung der sog. Präsidialanträge als Doku-
Staatsverfassung.
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mente „für die gewohnheitsrechtliche Entwicklung
einer kaiserlichen Initiative im Bundesrat“ u. a.
Anschütz in v. Holtzendorff-Kohler, Enzyklopädie
der Rechtswissenschaft II7 543; weitere Literatur
zur „Streitfrage“ über die sormal-juristische Exi-
stenz der kaiserlichen Initiative bei Jellinek, All-
gemeine Staatslehre: 523.)
Zu dieser Art der Verfassungsänderung gehört
auch die Tatsache, daß der Bundesrat aufgehört
hat, eine periodisch einberufene und geschlossene
Versammlung zu sein, wie es Artikel 12 der Reichs-
verfassung im Auge hat. (lber solche Verfassungs-
wandlungen in der Nordamerikanischen Union vgl.
Jellinek a. a. O.)
Literatur. Für die Frage der Verfassung
im formalen Sinn: Jellinek, Allgemeine
Staatslehre (21905), 15. Kap.: Die S. 491/525.
Dort auch weitere Literaturangaben. Über die
materielle Bedeutung der Verfassung: R.
Schmidt, Allgemeine Staatslehre 1 (1901) § 24:
Die formellen Rechtsgarantien im Staatsleben
201/217; II (1903) 2. TI: Verfassungsgrundlagen
des modernen Staats 878.886. Rehm, Allgemeine
Staatslehre (1899) 11. Abschnitt: Die repräsen-
tative Demokratie 285/347; 12. Abschnitt: Die
repräsentative Monarchie 348/356.
Über Verfassungswandlung: Jellinek, Ver-
fassungsänderung u. Verfassungswandlung (1906);
dazu das vorgängige Werk Labands, Wandlungen
der deutschen Reichsverfassung (1895). über die
Verfassungsentwicklung im Organismus des Deut-
schen Reichs, über ihre Ziele u. Notwendigkeiten
vgt g. Spahn, Das deutsche Zentrum (1907)
106 ff.
über Verfassungslücken: Jellinek, All-
gemeine Staatslehre (21905) 347 ff; dazu Anschütz,
Lücken in Verfassungs= u. Verwaltungsgesetzen, im
Verwaltungsarchiv XIV (1906) 315 ff; H. Triepel,
Die Kompetenzen des Bundesstaats u. die ge-
schriebene Verfassung. Festgabe für Laband (1908)
2, 247/335.
Aus der Geschichte der Verfassungs-
urkunden sei Jellinek, Die Erklärung der Men-
schen- u. Bürgerrechte (Ein Beitrag zur modernen
Verfassungsgeschichte, 1904) hier angemerkt wegen
der daselbst vertretenen Theorie, die Erklärungen
der Bürger- u. Menschenrechte in den ältesten mo-
dernen Verfassungsurkunden, denen der amerikani-
schen Kolonien, sei protestantischer Auffassung von
religiöser Freiheit, näherhin puritanisch-religiösen
Prinzipien entsprungen. Gegen diese Theorie Jel-
lineks vgl. die historischen Feststellungen von Niko-
laus Paulus, Die Erklärung der Menschenrechte u.
der Protestantismus, in der Lit. Beilage der Köln.
Volkszeitung 1906, Nr 39; 1910, Nr 16; Histor.=
polit. Blätter CXXXV (1905) 626 ff; ebenso bei
G. Hägermann, Die Erklärung der Menschen= u.
Bürgerrechte in den ersten amerikanischen S. (1910);
A. Wahl, Histor. Zeitschrift ClII (1909) 79 f.
Eine weit über den sormalen Titel des Werkes
ausgreifende klare Entstehungsgeschichte der mo-
dernen konstitutionellen Ideen bietet der I. Bd
(1907) von Ernst v. Meier, Französische Einflüsse
auf die Staats- u. Rechtsentwicklung Preußens im
19. Jahrh. (Abschn. 1I, Kap. 2 auch die Verfas-
sungen der Vereinigten Staaten). [Adolf Ou..]
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