Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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geschehen“, verdrängte namentlich nach der schweren 
wirtschaftlichen Krisis der 1870er Jahre mit Recht 
alle andern. Und das, was Männer wie Adolf 
Wagner, Brentano, Schmoller und alle diejenigen, 
die sich mit ihnen vereinten im Verein für Sozial- 
politik, leisteten, um den sozialen Reformen, die 
nach der wirtschaftlichen Revolution unvermeid- 
lich geworden waren, vorzuarbeiten, wird unver- 
gessen bleiben und sichert ihnen den Dank ganzer 
Generationen. 
Nun aber — nach einem Menschenalter sozial- 
politischer Taten — scheint sich von neuem das 
Bedürfnis nach rein wissenschaftlicher Erkenntnis 
auch auf sozialökonomischem Gebiet machtvoll 
Bahn zu brechen. Die Hoffnung mag dabei die 
fernere Geschichte der Volkswirtschaftslehre be- 
gleiten, daß sie sich nicht verliert in abstrusen be- 
grifflichen Haarspaltereien, sondern daß sie nicht 
weniger, sondern mehr noch als bisher dem prak- 
tischen Leben nützt. 
IV. Die chriflliche Bolkswirtschaftslehre. 
Der berühmte englische Nationalökonom Marshall 
schreibt in seinem „Handbuch der Volkswirtschafts- 
lehre“: „Der Fortschritt der Menschen an Zahl, 
Gesundheit, Stärke, Erkenntnis, Fähigkeit und 
Charakter ist das Endziel unserer ganzen For- 
schung, ein Endziel, zu dem die Wirtschaftslehre 
nur einige wichtige Elemente beitragen kann. In 
allgemeiner Hinsicht gehört daher die Erforschung 
dieser Entwicklung, wenn überhaupt, dann ans 
Ende einer Abhandlung über Nationalökonomie; 
aber eigentlich gehört sie auch dort 
nicht hin.“ Der englische Gelehrte sieht offen- 
bar die Grenzen seiner Wissenschaft deutlich genug. 
Aber er fühlte doch auch, daß der Menschen Ge- 
schick sich nicht in diese Grenzen einzwängen läßt, 
daß es über die Volkswirtschaft hinaus zum Volks- 
wohl drängt, das dem Gedanken Rechnung tragen 
muß: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ 
Diese Erwägungen sprechen aber ganz und gar 
nicht gegen die Notwendigkeit der präzisen Ab- 
grenzung der Volkswirtschaftslehre als Wissen- 
schaft, wie sie in den obigen Ausführungen vor- 
geschlagen wurde. Ist es richtig, daß der Mensch 
auch vom Brot leben muß und daß die dafür not- 
wendigen Mittel bereit gestellt werden müssen durch 
erfolgreiche Arbeit unter dem Druck des Gesetzes 
der Wirtschaftlichkeit, dann lohnt es sich, zunächst 
einzig und allein von diesem Standpunkt aus das 
wirtschaftliche Leben in seinem Sein und Werden 
anzuschauen, ohne sich den Blick trüben zu lassen 
durch irgend welche Vorurteile, Ziele oder Wünsche. 
Hat man dann aber die rein wirtschaftlichen Tat- 
sachen und Notwendigkeiten klar erkannt, dann 
wird es notwendig sein, sie mit dem Ziel des 
Menschen und der menschlichen Gesellschaft über- 
haupt in Einklang zu bringen, mit der Antwort 
auf die zuletzt entscheidende Frage: Wozu sind 
wir auf Erden? 
Ohne ein gegenseitiges Geben und Nehmen 
wird man da nicht auskommen: Die christliche 
Volkswirtschaftslehre. 
  
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Lehre des Zinsverbots ließ sich für eine gewisse 
Zeit im Mittelalter mit überwiegendem Vorteil 
auch für das Volkswohl durchführen, in einer mo- 
dernen Zeit würde ihre konsequente Durchführung 
das Volkswohl schwer schädigen; derjenige, der an 
die Möglichkeit eines „gerechten Lohns“ glaubt, 
wird diesen auch bei denselben Leistungen einem 
wenig bedürfenden Chinesen gewiß niedriger be- 
messen als gegenüber einem auf hoher Kulturstufe 
stehenden modernen Arbeiter. Umgekehrt mag z. B. 
die Vernichtung lebensschwacher Kinder und Greise 
dem „Wirtschaftsprinzip“ entsprechen, die christ- 
liche Lehre wird dagegen stets ihr entschiedenes 
Veto einlegen müssen. 
So ergibt sich aber für jede Weltanschauung 
die Notwendigkeit, das wirtschaftliche Leben zu 
begreifen, um an die Erkenntnis des Seins — 
nunmehr das Wissen mit dem Glauben verbin- 
dend — ihr Urteil über das Sollsein anzuschließen. 
Damit sind auch schon speziell die Aufgaben der 
christlichen Volkswirtschaftslehre angedeutet. Man 
wird es verstehen, wenn ich sage, daß die christ- 
liche Volkswirtschafslehre viel älter ist als die 
Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre. Sie be- 
ginnt mit dem Moment, wo das Christentum 
Stellung nahm zu den materiellen Alltagsinter- 
essen, mit andern Worten, sie beginnt mit dem 
Anfang des Christentums überhaupt. Freilich, sie 
wird mit der Zeitvollkommener — vielleicht zuweilen 
auch wieder weniger vollkommen —, je nachdem 
die klare Erkenntnis der christlichen Rechtsprinzipien 
einerseits und der volkswirtschaftlichen Geschehnisse 
anderseits vorwärts schreitet. Von einer Wissen- 
schaft — christliche Volkswirtschaftslehre genannt 
— wird man aber auch hier erst dann wieder 
sprechen können, wenn nicht nur versucht wird, 
christlichen Ideen praktisch Eingang zu verschaffen 
in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben, 
sondern wenn zunächst nur, um die ganze Wahr- 
heit zu sehen, das richtig erkannte volkswirtschaft- 
liche Sein vom Standpunkt der christlichen Welt- 
anschauung aus systematisch zu durchdenken ver- 
sucht wird. Die Bemühungen der christlichen 
Sozialpolitiker werden daher nicht hier, son- 
dern unter den Stichworten Volkswirtschaftspolitik, 
Sozialpolitik, Mittelstandspolitik usw. zu behan- 
deln sein. Dagegen gehören hierher die Be- 
mühungen mancher dieser Politiker, sich für ihr 
praktisches Vorgehen eine theoretische Basis zu 
schaffen, z. B. die Arbeiten des jungen Hitze, ins- 
besondere „Kapital und Arbeit“ (1881), ebenso die 
berühmte Schrift W. E. v. Kettelers „Die Ar- 
beiterfrage und das Christentum (1864), und Chri- 
stoph Moufangs „Handwerkerfrage“ (1864) — 
alles Versuche, durch Verbreitung theoretischer Er- 
kenntnis den Weg zur Tat zu bahnen. Eine zweite 
hierher gehörige Kategorie von Schriften bilden 
Untersuchungen von Theologen, die, von der Theo- 
logie oder der praktischen Seelsorge ausgehend, 
namentlich moraltheologisch zu volkswirtschaft- 
lichen Fragen Stellung nehmen; wie das z. B. 
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