Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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der politischen und kulturellen Entwicklung des 
späteren Mittelalters machten, daß sie die gesamte 
Bürgerschaft in geschlossenem Aufbau gliederten 
und daß sie jeden einzelnen nach allen Richtungen, 
in denen er im öffentlichen Leben wurzelte, er- 
saßten. Was sie aber in den Zeiten ihrer Blüte 
lebendig erhielt und vor Entartung schützte, waren 
die in ihnen verkörperten wahren Ideen der Frei- 
heit und Gleichheit und die ihnen zugrunde lie- 
gende sittliche Auffassung des Wirtschaftslebens. 
Die Freiheit war die Grundlage der Genossen- 
schaftsbildung, da die genossenschaftliche Bindung 
auf dem Gesamtwillen aller Genossenschafter be- 
ruhte und die kleinen innerlich einheitlichen Kreise, 
in denen sich die Genossenschaftsbildung vollzog, 
auch dem einzelnen den Uberblick über die genossen- 
schaftlich durchzusetzenden Interessen ermöglichte 
und die Bildung eines einheitlichen Gesamtwillens 
erleichterte. Die Gleichheit in ihrer wahren Be- 
deutung als Gleichberechtigung unter Gleichver- 
pflichteten war innerhalb der Genossenschaft ge- 
währleistet und setzte sich auch in der politischen 
Zusammenfassung der Genossenschaften im Stadt- 
regiment mit der wachsenden Bedeutung der Ge- 
nossenschaften durch. Die sittliche Auffassung des 
Wirtschaftslebens verbürgte dem einzelnen, der 
arbeiten konnte, die Arbeitsmöglichkeit und den ge- 
rechten Lohn für seine Arbeit. Durch die eifrige 
Hochhaltung der Standes= und Berufsehre wurde 
der Durcheinandermengung der Berufsstände und 
damit dem häufigen Wechsel der Berufe, der Über- 
setzung einzelner besonders begehrenswerter Be- 
rufsarten vorgebeugt. Die starkentwickelte Waren- 
polizei, Erzeugungsvorschriften, Beschauordnungen 
usw. in Verbindung mit sehr strenger Ahndung 
jeder Warenverfälschung sorgten für Schutz der 
Käufer wie der Produzenten gegenüber unlau- 
terem Wettbewerb und Schleuderarbeit. Dem- 
selben Zweck diente auch die möglichste Ausschal- 
tung des Zwischenhandels, wo er nicht durch die 
räumliche Entfernung der Erzeuger und Ge- 
braucher erfordert war. Als Tragbalken dieser wirt- 
schaftlichen Gleichgewichtsordnung dienten die 
wirtschaftsethischen Grundsätze des Christentums, 
wie sie eben zu jener Zeit durch das kanonische 
Recht und die scholastische Philosophie entwickelt 
wurden. Die scholastische Politik weist dem Staat 
ausdrücklich und im Gegensatz zur antiken Auf- 
fassung die Förderung der Wohlfahrt seiner Glie- 
der zu. Der Staat soll, auf der freien genossen- 
schaftlichen Gliederung seiner Bewohner ruhend, 
in einer monarchischen Spitze gipfeln. Die Arbeit 
ist Pflicht des Menschen gegen sich und gegen die 
Gesellschaft. Diese Arbeitspflicht ist somit das 
organische Band für den Aufbau der Gesellschaft. 
Die Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitspro- 
dukts hat sich nicht nach dem Arbeitserfolg, son- 
dern nach dem standesgemäßen Lebensbedarf der 
Arbeitenden zu regeln, da die Arbeit nicht um des 
Volkswirtschaftspolitik. 
  
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sorgung der nicht wirtschaftliche Güter erzeugenden 
Gesellschaftskreise, Adel, Klerus und die nicht 
Arbeitsfähigen, sorgt die Grundrente. Der Leih- 
zins von Geld wird verworfen, da das Geld im 
Gegensatz zu Grund und Boden unproduktiv, seine 
Entlehnung gegen Entgelt daher Wucher ist. 
Das hier geschilderte Wirtschaftssystem hatte 
aber auch Schwächen, die im Verein mit Wand- 
lungen der allgemeinen Kulturentwicklung zu seiner 
Entartung führten. Nicht nur daß die große 
Masse der landwirtschaftlichen Bevölkerung von 
der freien genossenschaftlichen Entwicklung aus- 
geschlossen blieb und gegen Ende dieses Zeitraums 
wirtschoftlich und gesellschaftlich immer tiefer sank, 
hier rächte sich das Übersehen der sozialen Bedeu- 
tung der Grundrente in der kanonistisch-scholasti- 
schen Wirtschaftsethik; auch den Städten gelang 
es nicht, das innerhalb ihrer Mauern gepflegte 
System der Interessensolidarität zu einer Ver- 
einigung aller Städte großer staatlicher Gebiete 
auszuweiten; die Vereinigung der Hansastädte, 
der rheinische Städtebund waren nicht umfassend 
und dauernd genug. Schon die mittelalterliche 
Stadt begann mit jener selbstgenügsamen und 
selbstsüchtigen Abschließungspolitik, Zoll- und 
Mautordnungen, Bannrechte, Stapelrechte usw., 
die später der junge Territorialstaat von ihr über- 
nehmen und zum wirtschaftspolitischen sog. Mer- 
kantilsystem ausbauen sollte. 
Vom Land aus durch die mit der beginnenden 
Geldwirtschaft kapitalisierte Grundrente und die 
aus ihr ihre Macht entlehnende, aus der Grund- 
herrschaft heranwachsende Landesherrschaft wurde 
die Städtefreiheit gebrochen, das Wesen der städti- 
schen Genossenschaft ausgehöhlt und entwertet. 
Die Landesherrschaft übernahm das System 
der mittelallerlich städtischen Wirtschaftspolitik in 
seinen äußeren Formen, um es auf das ganze 
Staalsgebiet auszudehnen. Sie übernahm aber 
nicht die ihm zugrunde liegende Wirtschaftsethik, 
sondern sie fußte auf der im Entstehen begriffenen 
Ethik des Kapitalismus. Waren die Grundlagen 
der ersteren Aszese und Jenseitsglaube gewesen, 
so wurde nun die Erlangung des größtmöglichen 
Maßes der Genüsse im diesseitigen Leben „die 
Glückseligkeit der Untertanen“ (Justi), das füh- 
rende Motiv in der Wirtschaftspolitik und im 
Wirtschaftsleben. 
Das wirtschaftspolitische System des sog. „Mer- 
kantilismus“, in der physiokratischen Literatur auch 
s steme protecteur oder reglementair, bei 
Adam Smitlh system of commerce genannt, ist 
durch das eben Gesagte schon teilweise gekenn- 
zeichnet. Es beherrschte die Jugendzeit der mo- 
dernen Staatsbildungen, setzte in Spanien im 15., 
in Frankreich und England zu Beginn des 16., 
in Deutschland und Osterreich im 17. Jahrh. ein. 
Es trug der Eigenart jedes dieser Staaten ent- 
sprechend nirgends ganz gleichartige Züge. Ein- 
Erwerbs willen, sondern in Erfüllung einer sitt= heitlicher Wesenszug ist die dem rationalistisch- 
lichen Pflicht unternommen wird. Für die Ver- mathematischen Zeitcharakter und dem „Geist des
	        
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