Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Kapitalismus“ entsprechende quantitative Wirt- 
schaftsbetrachtung. Diese äußerte sich in den stärker 
bevölkerten Weststaaten als Streben nach der größt- 
möglichen Eigenproduktion von wirtschaftlichen 
Gütern, in der Vergröberung der Praxis wohl 
auch als Summe der zirkulierenden Geldmittel 
aufgefaßt, in den deutschen und österreichischen 
Ländern trat daneben und wohl oft an erste Stelle 
die Tendenz nach Vermehrung der „Population“. 
In der erstgenannten Richtung, Streben nach wirt- 
schaftlicher Autarkie, wie in dem starken Hinneigen 
zum Staatssozialismus liegt die von der histo- 
rischen Schule der Nationalökonomie besonders 
betonte Gleichartigkeit mit der Wirtschaftspolitik 
unserer Tage. Die von der merkantilistischen 
Politik angewandten Mittel waren vielfach roh 
und mechanisch, konnten daher ihren Zweck nur 
teilweise erreichen. Die Reaktion gegen dieselben, 
die sich aber bald auch gegen einzelne Grund- 
gedanken des Systems wandte, setzte zuerst in der 
Theorie, in England schon Ende des 17. Jahrh. 
(William Petty, Dudley North), in Frankreich mit 
der physiokratischen nationalökonomischen Schule 
ein. Den ersten politischen Vorstoß gegen den 
Merkantilismus brachte die französische Revolution 
von 1789, ohne jedoch ihn nachhaltig beseitigen zu 
können. Nachhaltiger war der Erfolg der eng- 
lischen Demokratie nach der Parlamentsreform 
von 1832 und der festländischen Demokratien nach 
den Erfolgen von 1848 und in der Folgezeit. Die 
moderne Demokratie war und ist trotz gemeinsamer 
Grundlagen Gegner der merkantilistischen Volks- 
wirtschaftspolitik. Schon der „Vater“ der moder- 
nen Demokratie, Jeremy Bentham, ist gleichzeitig 
Vertreter des dem Merkantilsystem zugrunde liegen- 
den Ultilitarismus — größtmögliches Glück der 
der größtmöglichen Zahl — und ausgesprochener 
Anhänger des Free trade. Den Grund, warum 
das Merkantilsystem, das heute wieder, wenn auch 
in veränderter Form, das Glaubensbekenntnis der 
meisten Regierungen und großer politischer Parteien 
ist, in der Demokratie einen Gegner fand, hat schon 
Roscher genannt, wenn er den Merkantilismus als 
„den Anfang der wirtschaftlichen Volksbetrachtung“ 
der liberalen Okonomie, die „eine große Neigung 
habe, nur die einzelnen, und zwar in Bezug auf 
ihren Vorteil zu berücksichtigen“, gegenüberstellte. 
Es ist der Gegensatz zwischen der herrschenden 
Klasse, die durch den Staat, und der beherrschten 
Klasse, die gegen den Staat den größtmöglichen 
Vorteil für möglichst viele erreichen zu können 
glaubt. Es wurde eben betont, daß es weniger 
die wirtschaftspolitischen Theorien als die Ergeb- 
nisse der politischen Entwicklung sind, die dem 
modernen Staat des entwickelten kapitalistischen 
Zeitalters, 19. und 20. Jahrh., die wirtschafts- 
politischen Wege wiesen. Der erste Anstoß kam 
von der französischen Revolution. Frankreich ging 
mit der Aufhebung der feudalen Verfassung der 
Landwirtschaft 1789, mit Gewährung der Ge- 
werbefreiheit 1791 voran. Es folgte die preußische 
Volkswirtschaftspolitik. 
  
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Bauernbefreiung durch das Stein-Hardenbergsche 
Edikt 1807, die Einführung der Gewerbefreiheit 
in Preußen in den Jahren 1808/11. Hiermit 
waren aber die unmittelbaren wirtschaftlichen Fol- 
gen der ersten Revolution zum Abschluß gekommen. 
Durch mehr als 30 Jahre herrschte von da ab 
eine politisch wie wirtschaftlich rückläufige Be- 
wegung, obwohl die von England ausgegangene 
Freiwirtschaftstheorie in dieser Zeit auf dem ganzen 
Festland zur Herrschaft gelangt war. Auch die in 
den 1830er Jahren erfolgte Gründung des Deut- 
schen Zollvereins bedeutete hierin noch keinen 
Wandel, denn sie setzte nur den schon vom mer- 
kantilistischen Territorialstaat begonnenen Prozeß 
der Vergrößerung des Wirtschaftsgebiets fort, 
indem sie die politische Gründung des Deutschen 
Reichs verkehrspolitisch vorwegnahm und damit 
vorbereitete. 
Der Hauptstoß zur Durchsetzung des ökono- 
mischen Liberalismus auf dem europäischen Fest- 
land erfolgte im Anschluß an die Verfassungs- 
bewegungen von 1848 und der Folgezeit. Er 
brachte bzw. vervollständigte die wirtschaftliche 
Selbständigmachung des Bauernstands durch die 
Ablösung der aus dem Feudalsystem verbliebenen 
Reallasten, bzw. die Aufhebung des Systems des 
geteilten Besitzes von Grund und Boden; ferner 
die Aufhebung der Beschränkungen, die der Ver- 
äußerung, Belastung und Teilbarkeit des land- 
wirtschaftlichen Grundbesitzes entgegenstanden, wo- 
bei jedoch vor den Fideikommissen Halt gemacht 
und nur deren Neubildung erschwert wurde; auf 
dem Gebiet der Gewerbepolitik die Beseitigung 
der schon im 18. Jahrh. an zahlreichen Stellen 
durchbrochenen, durch das absolutistisch bureau- 
kratische Verwaltungssystem ohnehin gegenstands- 
los gewordenen Zunftverfassung, der Gewerbe- 
begrenzung, des Befähigungsnachweises usw.; auf 
dem Gebiet der Handelspolikik in stufenweisem 
Fortschritt Beseitigung der Ein-, Aus= und Durch- 
fuhrverbote, der Binnenzölle und Verkehrsabgaben, 
Ermäßigung der Einfuhrzölle vorerst autonom, 
dann auf dem Vertragsweg (Fallen der englischen 
Kornzölle 1846, englisch-französischer Handels- 
vertrag 1860, Meistbegünstigungsklauselim Frank- 
furter Friedensvertrag 1871); endlich die Be- 
seitigung der obrigkeitlichen Warenkontrolle, an 
deren Stelle erst später wieder ein sich aber nur 
auf Lebensmittel erstreckendes System von Re- 
pressivmaßregeln gesetzt wurde und die Aufhebung 
der gesetzlichen Zinsbeschränkungen. 
Ein Wandel in der Stellung der festländischen 
europäischen Staaten gegenüber dem Freiwirt- 
schaftssystem trat dann im letzten Viertel des 
19. Jahrh. ein. Er hängt zusammen einerseits 
mit der Verflechtung der europäischen Volkswirt- 
schaften in die Weltwirtschaft, bedingt durch die 
außerordentliche Entwicklung der Verkehrsmittel, 
durch die wirtschaftliche Entfaltung Nordamerikas 
nach dem Bürgerkrieg, durch die Erschließung 
neuer Wirtschaftsgebiete auf allen Kontinenten für
	        
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