Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1029 
viduen besteht, die einander gleich sind. Daraus 
ergab sich ohne weiteres die Forderung eines all- 
gemeinen und gleichen Wahlrechts. Dement- 
sprechend betrachtete auch die alte naturrechtliche 
Staatstheorie das Wahlrecht als ein angebornes na- 
türliches Menschenrecht des einzelnen Individuums, 
entsprechend der Theorie von der Entstehung des 
Staats durch Vertrag und von dem Charakter 
des Gesetzes als Ausfluß des allgemeinen Willens. 
So die Deduktionen von Locke, Wolff, Rousseau 
u. a. Der instinktive Gegensatz gegen den Druck 
des absolutistischen Polizeistaats ließ die Vor- 
stellung von den angebornen Menschen= und 
Bürgerrechten erst recht erstarken und ist nament- 
lich in der Formulierung Nousseaus bis zur Rück- 
forderung der unveräußerlichen Volkssouveränität 
und der Forderung auf Teilnahme der Glieder 
des souveränen Volks am Staat fortgeschritten. 
Das Gesetz ist hiernach nichts anderes als der Ge- 
meinwille des Volks, und deshalb hat der Bürger 
auch das Recht, an der Bildung dieses Gemein- 
willens teilzunehmen. Da alle dem Gesetz unterwor- 
fen seien, müßten auch alle in der Lage sein, an seiner 
Bildung mitzuwirken. Mit den naturrechtlichen 
Ideen berührt sich die Auffassung des Wahlrechts 
als eines Individualrechts, das sich aufbaut auf 
dem Standpunkt von Leistung und Gegenleistung. 
Hierbei betrachtet man das Wahlrecht als Korrelat 
zu den Leistungen des Bürgers gegenüber dem 
Staat, wie Steuerleistung, Militärdienst u. dgl. 
Der Theorie von den angebornen Menschen- 
rechten stellte sich im 19. Jahrh. die historische 
Rechtsschule entgegen und erklärte, daß man von 
Recht erst sprechen könne, wenn eine übergeord- 
nete, staatliche Macht vorhanden sei, daß also erst 
durch den Staat Rechte entstehen, so namentlich 
auch das Wahlrecht, das seinem ganzen Begriff 
nach ja schon das Vorhandensein eines Staats 
voraussetze. Gegenüber der Auffassung des Wahl- 
rechts als eines historischen Rechts wird geltend 
gemacht, daß es kein Privatrecht am Staat, be- 
sonders kein solches zum Wählen gebe, da dieses 
Recht das Recht in sich schließen würde, den 
Staat schlecht zu regieren. Die Annahme eines 
historischen Rechts auf Wahlstimme widerspreche 
ebenso wie die eines Naturrechts dem Wesen des 
Staats als eines dem einzelnen Individuum über- 
geordneten Begriffs. Diese Annahme würde das 
Verhältnis zwischen Staat und dem einzelnen 
umkehren, indem sie den einzelnen über den Staat 
stelle (Voensgen). Der Vollständigkeit halber sei 
hier noch die Theorie der angebornen Privilegien 
erwähnt, wie sie in den alten ständischen Bil- 
dungen ihren Ausdruck fand und die vereinzelt 
auch jetzt noch von Verfechtern eines berufsständi- 
schen Wahlrechts hervorgeholt wird, die aber heute 
ernstlich nicht mehr in Betracht kommt. Die 
modernen Wahlrechtstheoretiker betrachten das 
Wahlrecht fast allgemein nicht vom Standpunkt 
des einzelnen, sondern von dem des Staatsinter- 
esses aus, da der Staat nicht für den einzelnen, 
Wahlrecht. 
  
1030 
sondern für die Gesamtheit da sei. Der Staat 
ist danach nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt 
durch Vertrag bewußt geschaffen, sondern organisch 
entstanden. Ebenso ist danach das Gesetz nicht 
Ausfluß des allgemeinen Willens, sondern durch 
die Faktoren der Staatsgewalt angeordnet und 
wird eventuell mit Zwang durchgeführt. Danach 
ist dann auch das Wahlrecht nicht mehr ein an- 
gebornes, subjektives Persönlichkeitsrecht, sondern 
ein „Ausfluß der staatlichen Rechtsordnung“, eine 
„öffentliche Funktion“, die der einzelne im Staats- 
interesse und zum Staatszweck auszuüben hat und 
die dazu bestimmt ist, diejenige Vertretung aus- 
zuwählen, die am besten die Gesamtinteressen eines 
Staats wahrnehmen kann (so Bluntschli, v. Mohl, 
Schäffle, Treitschke, Merkel, Jellinek, Meyer, 
v. Savigny, Poensgen, Cahn u. a.). Zu der 
hierbei vielfach zutage tretenden einseitigen Auf- 
fassung des Staats als „Rechtsstaat“, als der 
„alleinigen Quelle des Rechts“, ist zu bemerken, 
daß neben dem Gesetz des Staats das Gewissen 
des einzelnen steht und daß mit Rücksicht hierauf 
die rechtsetzende Tätigkeit des Staats gebunden 
ist an die sittliche Zulässigkeit und die Anforde- 
rungen der Gerechtigkeit. Anderseits aber ist Auf- 
gabe der Volksvertretung, die Bürger vor Miß- 
regierung zu schützen und die rechtliche Freiheit 
aller zu wahren. Sie soll das Volk in ihrer Ge- 
samtheit vertreten, nicht die einzelnen Kreise je für 
sich, aber auch nicht die bloße Summe der Einzel- 
menschen, sondern das Volk in seiner realen Glie- 
derung (v. Hertling). Staatswohl und Staats- 
zweck sind sonach die letzten Normen für das 
Wesen des Wahlrechts, zwei Begriffe, die aller- 
dings ganz verschiedene Bedeutung haben je nach 
den individuellen, subjektiven Anschauungen des 
einzelnen. 
In neuerer Zeit gewinnt die Anschauung immer 
mehr Anhang, daß dem Wahlrecht eine Wahl- 
pflicht entspreche. Man geht hierbei von der 
öffentlich-rechtlichen Natur des Wahlrechts aus. 
Wenn das Wahlrecht als eine öffentliche Funktion 
angesehen werden müsse, die dem einzelnen nicht 
in seinem, sondern im staatlichen Interesse über- 
tragen werde, so könne der Staat dem Wähler 
auch die Pflicht auferlegen, diese Funktion zu er- 
füllen. Jedes politische Recht enthalte zugleich eine 
politische Pflicht. Dem wichtigsten Staatsbürger- 
recht entspreche mithin eine Pflicht gegen die Ge- 
samtheit. Auch die Volksmeinung komme so am 
reinsten zum Ausdruck, und unwürdige Agitation 
und terroristische Drohungen würden dadurch mehr 
zurückgedrängt. Es werde dadurch eine möglichst 
gleichmäßige Vertretung der gesamten Wähler- 
schaft herbeigeführt und das Wahlergebnis von 
zufälligen durch Parteidruck herbeigeführten Mehr- 
heiten unabhängig gemacht (so Meyer, Meyr, 
Herrfurth, Petzet, Benoist, Moreau u. a.). In 
Verfolg dieser Ideen wurde die Wahlpflicht ein- 
geführt in einigen Schweizer Kantonen (Appen- 
zell, Schaffhausen, St Gallen) sowie in Belgien. 
337
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.