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In Osterreich überließ es das Wahlreformgesetz
den Einzellandtagen, die Wahlpflicht einzuführen
(eingeführt ist sie in Niederösterreich, Oberöster-
reich, Vorarlberg, Mähren, Schlesien und Salz-
burg, in den beiden letzteren zunächst nur probe-
weise auf einige Jahre). Vielfach betrachtet man
hierbei die Wahlpflicht mehr als einen moralischen
Zwang. Man begnügt sich deshalb auch mit einer
verhältnismäßig geringen Strafsanktion. Die
Gegner der Wahlpflicht (so namentlich Spira)
erklären, daß der starren Theorie jener Staats-
rechtslehrer, welche die Wahl ausschließlich als eine
Beauftragung des Wählers mit einer staatlichen
Funktion betrachten, nicht ohne weiteres zugestimmt
werden könne. Allerdings übernehme jeder Wahl-
berechtigte einen Bruchteil der Verantwortung für
eine gedeihliche Leitung der öffentlichen Angelegen-
heiten. Dem Stimmrecht hafte aber trotzdem auch
ein ausgesprochen persönlicher Einschlag an. Der
einzelne Wähler könne bei der Wahl seine rein
persönlichen Interessen nicht vollständig von denen
des Staats trennen. Wenn der Begriff des sub-
jektiven öffentlichen Rechts noch nicht feststehe, so
treffe dies noch in ganz besonderem Maß hinsicht-
lich des Wahlrechts zu; die wahre rechtliche Natur
desselben harre noch immer der wissenschaftlichen
Ergründung. Es scheine, als ob die rechtliche
Beschaffenheit des Wahlrechts Elemente eines
Kompromisses zwischen Staat und Individuum
aufweise, wobei dem ersteren allerdings die Rolle
eines Rechtsbegründers zukomme. Der Wahl-
berechtigte sei nur ein zu einer staatlichen Funk-
tion Befähigter, der die Annahme der ihm an-
gebotenen Funktion in dem konkreten Fall auch
ausschlagen könne. Durch das Wahlrecht werde
der Bürger nicht beauftragt, sondern ihm das
Eingreifen für den Staat nur anheimgestellt;
mache er davon Gebrauch, dann übernehme er
allerdings auch die sich daraus ergebenden Ver-
pflichtungen im Interesse des Staats. Aus dem
Wahlrecht lasse sich nicht jedes Element entfernen,
das den Gedanken einer daselbst mit inbegriffenen
persönlichen Prärogative erwecken könnte, viel-
mehr sei mit der Ausübung des Wahlrechts als
öffentlich-rechtlicher Pflicht die Wahrung des per-
sönlichen Interessengebiets seitens des Wählers
keineswegs unvereinbar. Des weiteren wird dar-
auf hingewiesen, daß, wie jeder Abgeordnete das
Recht habe, sich bei Abstimmungen im Parlament
der Stimme zu enthalten, so billigerweise auch
dem Wähler das gleiche Recht für sich nicht ab-
gesprochen werden könne.
Aus all diesen Erwägungen geht hervor, daß
es eine einheitliche Idealschablone für das Wahl-
sccht für alle Zeiten und Staaten nicht geben
ann.
II. Arten des Wahlrechts. Ein Ausfluß
von den Auffassungen von der Natur des Wahl-
rechts sind die beiden Hauptarten, in die man
die bestehenden Wahlrechtssysteme einteilen kann.
Während die einen auf Grund der naturrechtlichen
Wahlrecht.
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Auffassung von dem selbstverständlichen Wahl-
recht jedes Menschen das allgemeine Stimmrecht
sordern, mußte die Theorie von der öffentlichen
Funktion schon bei der Einführung der Direk-
torialverfassung in Frankreich die Unterlage ab-
geben, als es galt, das Wahlrecht wieder zu be-
schränken und an Bedingungen zu knüpfen. Trotz-
dem diese Theorie in der Staatsrechtswissenschaft
die fast allgemein anerkannte ist, macht sich doch
auch heute noch die naturrechtliche Auffassung,
wenn auch nur als halbbewußte Unterströmung,
allenthalben bemerkbar. Von einem allgemeinen
Wahlrecht spricht man, wenn das Wahlrecht allen
mündigen Staatsbürgern von einem bestimmten
Alter an zusteht. Ausgenommen sind allerdings
regelmäßig aus natürlichen Gründen rechtsunfähige
oder beschränkt rechtsfähige Personen, wie Geistes-
kranke, Personen, welche die bürgerlichen Ehren-
rechte verloren haben, sich unter Vormundschaft
befinden oder in Konkurs geraten sind, sowie
solche, welche Armenunterstützung erhalten oder
erhalten haben. Gleichfalls entbehren des Wahl-
rechts regelmäßig die Frauen (über Frauen-
stimmrecht vgl. d. Art. Frauenfrage Bd II,
Sp. 291 f und Sp. 295 ff). Das allgemeine
Wahlrecht hat wiederum zwei Unterarten, das
gleiche und das abgestufte Wahlrecht. Bei dem
ersteren hat jeder Wahlberechtigte ohne Ansehen
seiner Person eine Stimme. Das abgestufte Wahl-
recht dagegen teilt die Wähler in verschiedene
Gruppen, und zwar entweder nach Ständen oder
nach Steuerklassen. Hierbei kann auch so nor-
miert sein, daß bei den Wahlen die große Masse
der Wählerschaft nur je eine Stimme besitzt, die-
jenigen Wähler aber, die über einen bestimmten
Bildungsgrad oder Vermögensbesitz verfügen oder
ein bestimmtes Alter erreicht haben, mehrere Stim-
men haben. In diesem Fall spricht man von einem
Pluralsystem. Endlich ist es aber auch noch
möglich, daß neben den aus allgemeinen Wahlen
hervorgegangenen Abgeordneten einzelne Kreise
befugt sind, für sich noch besondere Vertreter zu
wählen. — Werden noch weitere Erfordernisse für
das Stimmrecht überhaupt verlangt, wie nament-
lich Vermögens- und Bildungsnachweise, so haben
wir es mit einem beschränkten Wahlrecht zu
tun. Hierher gehören auch die Erfordernisse früherer
Zeit, wonach das Wahlrecht an die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Konfession geknüpft war. So
waren beispielsweise in England ehedem die Ka-
tholiken und in Deutschland bis zum Jahr 1848
die Juden ausgeschlossen. Eine derartige Be-
schränkung der politischen und bürgerlichen Rechte
mußte der modernen Entwicklung immer mehr
weichen. — Ferner unterscheidet man ein öffent-
liches Wahlrecht, wenn die Slimmabgabe zu
Protokoll erfolgt, und ein geheimes, wenn
man sich dabei verdeckter Stimmzettel bedient,
sowie endlich ein direktes Stimmrecht, wenn
die Wähler unmittelbar den Abgeordneten wählen,
und ein indirektes, wenn die Wähler zunächst