Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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ist. In den beiden letzten Fällen ist jedoch Wieder- 
wahl zulässig. 
Zur Sicherung einer freien Wahl wird nach 
den §8§ 107, 108, 109 und 339, Abs. 3 des 
Reichsstrafgesetzbuchs mit ziemlich hohen Strafen 
bedroht, wer durch Gewalt oder Bedrohung mit 
einer strafbaren Handlung jemand verhindert oder 
zu verhindern sucht, in Ausübung seiner staats- 
bürgerlichen Rechte zu wählen oder zu stimmen; 
ferner wer in einer öffentlichen Angelegenheit mit 
der Sammlung von Wahl= oder Stimmzetteln 
oder zzeichen oder mit der Führung der Beurkun- 
dungsverhandlung beauftragt ist und dabei ein 
unrichtiges Ergebnis der Wahlhandlung vorsätzlich 
herbeiführt oder das Ergebnis fälscht; endlich wer 
in öffentlicher Angelegenheit eine Wahlstimme 
kauft oder verkauft. Bei Beamten ist dies auch 
schon bei Mißbrauch ihrer Amtsgewalt oder bei 
Androhung eines bestimmten Mißbrauchs der Fall. 
Von großer Bedeutung ist die Frage, ob der 
Reichstag berechtigt ist, noch über diese strafrecht- 
lichen Normen hinaus die freie und geheime Wahl 
zu sichern. Staatsrechtslehrer wie Laband bezeich- 
neten die Wahlbeeinflussung, soweit sie nicht mit 
den strafrechtlichen Bestimmungen in Konflikt 
kommt, sogar als ein Korrelat des allgemeinen 
direkten Wahlrechts, ohne welche die Erzielung 
einer absoluten Stimmenmehrheit der Wähler in 
einem Kreis nicht zu erwarten sei. Möchten die 
Mittel, welche zur Wahlbeeinflussung verwendet 
werden, auch noch so verwerflich sein, solange 
sie nicht gesetzlich verboten seien, seien sie auf 
die Gültigkeit der Wahl von keinerlei Einfluß. 
Der Reichstag selbst stellte sich anfänglich auch 
auf diesen Standpunkt. Doch bald zeigte sich, 
wie namentlich in industriellen Wahlkreisen einzelne 
Arbeitgeber und ihre Beamten die Abhängigkeit 
ihrer Arbeiter von ihnen benutzten, um Wahl- 
beeinflussung und Wahldruck in krassester Form 
zu betreiben, so daß vielfach von einer freien und 
geheimen Wahl überhaupt nicht mehr die Rede 
sein konnte. So schloß sich denn auch die Wahl- 
prüfungskommission in der Session 1884/85 bei 
der Prüfung der Wahl im Wahlkreis Bochum- 
Gelsenkirchen der Ansicht des Referenten (Abgeord- 
neten Rintelen) an, der sich auf den Standpunkt 
stellte, daß mit der bisherigen Praxis gebrochen 
werden müßte, wonach lediglich die durch staat- 
liche Behörden oder öffentliche Beamte in amt- 
licher Eigenschaft ausgeübten Wahlbeeinflussungen 
für einen erheblichen Anfechtungsgrund erachtet 
wurden. Diese Praxis habe in vielen industriellen 
Wahlkreisen den Deckmantel abgeben müssen für 
die Arbeitgeber in ihren Manipulationen auf Be- 
einträchtigung der Wahlfreiheit und des Wahl- 
geheimnisses, so daß vielfach die freie und geheime 
Wahl gar nicht mehr möglich sei. Derartige durch 
Arbeitgeber geübte Praktiken seien schlimmer und 
demoralisierender als die Wahlbeeinflussungen 
durch öffentliche Behörden oder Beamte, da es sich 
bei jenen oft um die ganze wirtschaftliche Existenz 
  
Wahlrecht. 
  
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der Wähler handle. Das Gesetz aber garantiere 
nach seinem Geist und seinem Wortlaut freie und 
geheime Wahl. Es sei unzweifelhaft ein Eingriff 
in das freie Recht der freien Wahl, wenn jemand, 
der einen erheblichen Einfluß auf die Lebens- 
stellung vieler Wähler habe, dieselben direkt zwinge, 
einen bestimmten Wahlzettel abzugeben. Ein Ein- 
griff in das Recht der geheimen Wahl sei es, wenn 
derselbe irgendwie Mittel und Wege schaffe, die 
Abgabe solcher Wahlzettel zu kontrollieren. Dies 
gelte ganz besonders von den großen Arbeitgebern 
in den Industriebezirken. Es liege darin ein dem 
Geist des Gesetzes widersprechender Mißbrauch des 
Einflusses, welcher an sich nicht geduldet werden 
dürfe. Die Arbeiter müßten in solchen Fällen die 
Überzeugung gewinnen, daß, falls sie nicht nach 
dem Willen der Arbeitgeber wählten, dies ihnen 
in irgend einer Weise zu den größten Nachteilen 
gereichen würde. Diese zu besorgenden Nachteile 
beständen namentlich bei den in der Montan= und 
Hüttenindustrie beschäftigten Arbeitern darin, daß 
sie entweder in gefährlichere Arbeitsstellen verlegt 
oder in ihrem Verdienst beeinträchtigt oder gar 
aus der Arbeit gänzlich entlassen würden. Es sei 
ein öffentliches Geheimnis, daß vielfach entweder 
die Entlassungsscheine mit gewissen verabredeten, 
kaum merklichen Zeichen versehen seien, oder daß 
die Werkbesitzer oder deren Angestellte durch Korre- 
spondenzen betreffs solcher abgelegten Arbeiter, 
welche nach Abrede auf den andern Werken nicht 
wieder angenommen werden dürfen, sich auf dem 
laufenden erhielten. Werde ein Arbeiter unter 
solchen Umständen entlassen, so sei ihm das Brot 
weit und breit in der ganzen Gegend entzogen 
und Wochen bitterer Not brächen für ihn herein. 
Von einer Freiheit und einem Geheimnis der 
Wahl könne bei derartigen Wahlpraktiken keine 
Rede sein. Daraus ergebe sich, daß in denjenigen 
Wahlbezirken, in denen eine solche Einmischung 
der Arbeitgeber oder ihrer Angestellten nachge- 
wiesen werde, der ganze Wahlakt dieser Bezirke 
nichtig sei und daß, wenn solcher Bezirke eine er- 
hebliche Anzahl sei, unter Umständen der Wahlakt 
des ganzen Wahlkreises kassiert werden müsse. 
In der Ausübung ihres Mandats sind die 
Reichstagsabgeordnetenunabhängig von ihren 
Wählern. Nach der Reichsverfassung sind sie 
die Vertreter des gesamten Volks, daher an Auf- 
träge und Instruktionen nicht gebunden. Sog. 
„imperative Mandate“ zerfallen somit in sich selbst. 
Die Legitimation seiner Mitglieder 
prüft der Reichstag selbst. Das Verfahren hierbei 
wird normiert durch die Geschäftsordnung. Eine 
Wahlanfechtung muß innerhalb zehn Tagen nach 
Eröffnung des Reichstags bzw. nach Feststellung 
des Wahlergebnisses bei Stichwahlen erfolgen. 
Die Wahlprüfungskommission hat dem Plenum 
des Reichstags schriftlich oder mündlich Bericht zu 
erstatten, worauf von diesem die definitive Ent- 
scheidung erfolgt. Etwa notwendig werdende Unter- 
suchungen über Tatsachen kann der Reichstag vom
	        
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