Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1047 
gegeben werden, sind ungültig. Ergibt sich bei der 
ersten Abstimmung über die Wahlmänner keine 
absolute Majorität, so findet engere Wahl statt. 
Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los. Über 
die Annahme der Wahl muß sich der Wahlmann 
erklären. Die Stimmabgabe bei der Wahl der 
Wahlmänner durch die Urwähler ist öffentlich. 
Die Wahlmänner aller drei Klassen wählen ge- 
meinschaftlich den resp. die Abgeordneten, da nach 
den Bestimmungen des Gesetzes von 1860 die 
einzelnen Wahlkreise jeweils einen, zwei oder drei 
Abgeordnete in den Landtag zu entsenden haben. 
Zur Wahl der Abgeordneten beruft der Wahl- 
kommissar, der ebenso wie der Wahlort für jeden 
Wahlbezirk vom Regierungspräsidenten bezeichnet 
wird, die Wahlmänner mittels schriftlicher Ein- 
ladung. Der Wahlkommissar hat zunächst die 
Verhandlungen über die Urwahlen zu prüfen und 
seine etwaigen Bedenken der Versammlung der 
Wahlmänner vorzutragen. Nachdem sodann die- 
jenigen Wahlmänner, deren Wahl für ungültig 
erklärt ist, ausgeschlossen sind, wird sofort zur 
eigentlichen Wahl geschritten. Die Wahl der Ab- 
geordneten erfolgt durch Stimmabgabe zu Pro- 
tokoll. Der Protokollführer und die Beisitzer wer- 
den von den Wahlmännern auf Vorschlag des 
Wahlkommissars gewählt und bilden mit diesem 
den Wahlvorstand. Die Wahlen erfolgen nach 
absoluter Stimmenmehrheit. Früher wurde jeder 
Abgeordnete in einem besondern Wahlgang ge- 
wählt. Durch das Reglement vom 14. März 1903 
ist nur mehr ein Wahlgang nötig. Dieses Regle- 
ment wurde erlassen, um bei der Wahlhandlung 
einer eventuellen Obstruktion der Sozialdemo- 
kratie, die sich bei den preußischen Landtagswahlen 
190 erstmal beteiligte, von vornherein möglichst 
zu begegnen. Ergibt sich beim ersten Wahlgang 
keine absolute Majorität, so wird zu einer engeren 
Wahl geschritten. Kommt es auch hierbei zu keiner 
absoluten Majorität, so fällt in jeder der folgenden 
Abstimmungen derjenige Kandidat aus, der die 
wenigsten Stimmen hatte, bis die Mojorität für 
einen Kandidaten erlangt ist. Bei Stimmengleich- 
heit zieht der Wahlkommissar das Los. Über die 
Gültigkeit der einzelnen Wahlstimmen entscheidet 
der Wahlvorstand. Der gewählte Abgeordnete hat 
dem Wahlkommissar gegenüber seine Annahme- 
erklärung abzugeben. Die endgültige Prüfung und 
die Entscheidung über beanstandete Wahlen steht 
dem Haus der Abgeordneten gemäß seiner Ge- 
schäftsordnung zu. Nimmt ein Abgeordneter ein 
besoldetes Hof= oder Staatsamt an oder tritt er 
in ein solches mit höherem Rang oder Gehalt ein, 
so erlischt damit das Abgeordnetenmandat. Eine 
Wiederwahl ist jedoch zulässig. 
Das preußische Dreiklassenwahlsystem mit seinen 
Mängeln und Ungereimtheiten, das mit seinen 
Willkürlichkeiten den Anforderungen moderner 
Kulturstaaten in keiner Weise mehr entsprechen 
kann, hat in der Offentlichkeit eine immer stärker 
werdende Kritik erfahren. Bismarck selbst hat es 
Wahlrecht. 
1048 
bereits am 28. März 1867 im Norddeutschen 
Reichstag dahin beurteilt, daß „ein widersinnigeres, 
elenderes Wahlgesetz nicht in irgend einem Staat 
ausgedacht worden“ ist. Schon 1859 wurde ein 
Antrag auf Einführung des geheimen Stimm- 
rechts eingebracht. Ein bezüglicher Antrag des 
Abgeordneten Stern (Frankfurt) scheiterte 1883 
an dem Widerstand der Regierung. Wiederholt 
wurde der Antrag auf Einführung des Reichs- 
tagswahlrechts gestellt, so 1873 von seiten des 
Zentrums. Der Antrag wurde damals abgelehnt, 
und zwar von einem Abgeordnetenhaus, in wel- 
chem die Linke über die große Mehrheit verfügte. 
Der Ruf nach einer durchgreifenden Wahlrechts- 
reform erscholl namentlich im letzten Jahrzehnt 
immer lauter, und wiederholt wurden entsprechende 
Anträge in der Kammer eingebracht. Die „orga- 
nische Fortentwicklung des Wahlrechts“, welche 
dem neu zusammengetretenen Landtag in der 
Thronrede vom 20. Okt. 1908 in Aussicht ge- 
stellt wurde, nahm greifbare Gestalt an in dem 
Gesetzentwurf vom 4. Febr. 1910. Dieser behielt 
das Dreiklassensystem im Prinzip bei, suchte es 
aber zu mildern einmal durch die sog. Maximie- 
rung, wonach Steuern im Betrag von mehr als 
5000 M bei der Klasseneinteilung nicht in An- 
rechnung kommen sollten, und ferner durch Ver- 
leihung eines Mehrstimmrechts an die Wahlbe- 
rechtigten, die einen gewissen Bildungsgrad auf- 
weisen konnten, sog. Kulturträger. Im übrigen 
hatte der Entwurf eine direkte, aber öffentliche 
Wahl vorgesehen. Ein Kompromiß zwischen Kon- 
servativen und Zentrum setzte zwar an Stelle der 
direkten Wahl wieder die indirekte, dafür sollte 
aber die Wahl der Wahlmänner durch die Ur- 
wähler geheim sein. Ferner wurden Anderungen 
bezüglich der Maximierung und der Kulturträger 
vorgenommen. In dieser Form fand die Vorlage 
in den beiden von der Verfassung verlangten Ab- 
stimmungen die Annahme seitens der erforderlichen 
Mehrheit des Abgeordnetenhauses. Die Regierung 
verlangte jedoch eine Vorlage, der auch die Na- 
tionalliberalen und Freikonservativen zustimmen 
würden. Im Herrenhaus wurden infolgedessen 
wieder die Bestimmungen über die Kulturträger 
und die Maximierung geändert und vor allem 
auch die seit 1898 gesetzlich festgelegte Driltelung 
in den Urwahlbezirken wieder beseitigt. Gerade 
hierdurch wäre an die Stelle einer Reform eine 
Verschärfung des plutokratischen Charakters des 
preußischen Wahlrechts getreten. Als bei der nun- 
mehrigen Abstimmung in der Zweiten Kammer am 
28. Mai 1910 mit Ausnahme der Nationallibe- 
ralen, Freikonservotiven und einiger Konservativen 
das ganze Abgeordnetenhaus gegen diese Vorlage 
stimmte, zog sie die Regierung zurück. Damit ist 
eine Reform des „elendesten aller Wahlsysteme“" 
wiederum in die Zukunft hinausgeschoben, die 
in absehbarer Zeit wenig Aussicht auf eine 
gründliche Reform in freiheitlichem Sinn bieten 
dürfte. 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.