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gegeben werden, sind ungültig. Ergibt sich bei der
ersten Abstimmung über die Wahlmänner keine
absolute Majorität, so findet engere Wahl statt.
Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los. Über
die Annahme der Wahl muß sich der Wahlmann
erklären. Die Stimmabgabe bei der Wahl der
Wahlmänner durch die Urwähler ist öffentlich.
Die Wahlmänner aller drei Klassen wählen ge-
meinschaftlich den resp. die Abgeordneten, da nach
den Bestimmungen des Gesetzes von 1860 die
einzelnen Wahlkreise jeweils einen, zwei oder drei
Abgeordnete in den Landtag zu entsenden haben.
Zur Wahl der Abgeordneten beruft der Wahl-
kommissar, der ebenso wie der Wahlort für jeden
Wahlbezirk vom Regierungspräsidenten bezeichnet
wird, die Wahlmänner mittels schriftlicher Ein-
ladung. Der Wahlkommissar hat zunächst die
Verhandlungen über die Urwahlen zu prüfen und
seine etwaigen Bedenken der Versammlung der
Wahlmänner vorzutragen. Nachdem sodann die-
jenigen Wahlmänner, deren Wahl für ungültig
erklärt ist, ausgeschlossen sind, wird sofort zur
eigentlichen Wahl geschritten. Die Wahl der Ab-
geordneten erfolgt durch Stimmabgabe zu Pro-
tokoll. Der Protokollführer und die Beisitzer wer-
den von den Wahlmännern auf Vorschlag des
Wahlkommissars gewählt und bilden mit diesem
den Wahlvorstand. Die Wahlen erfolgen nach
absoluter Stimmenmehrheit. Früher wurde jeder
Abgeordnete in einem besondern Wahlgang ge-
wählt. Durch das Reglement vom 14. März 1903
ist nur mehr ein Wahlgang nötig. Dieses Regle-
ment wurde erlassen, um bei der Wahlhandlung
einer eventuellen Obstruktion der Sozialdemo-
kratie, die sich bei den preußischen Landtagswahlen
190 erstmal beteiligte, von vornherein möglichst
zu begegnen. Ergibt sich beim ersten Wahlgang
keine absolute Majorität, so wird zu einer engeren
Wahl geschritten. Kommt es auch hierbei zu keiner
absoluten Majorität, so fällt in jeder der folgenden
Abstimmungen derjenige Kandidat aus, der die
wenigsten Stimmen hatte, bis die Mojorität für
einen Kandidaten erlangt ist. Bei Stimmengleich-
heit zieht der Wahlkommissar das Los. Über die
Gültigkeit der einzelnen Wahlstimmen entscheidet
der Wahlvorstand. Der gewählte Abgeordnete hat
dem Wahlkommissar gegenüber seine Annahme-
erklärung abzugeben. Die endgültige Prüfung und
die Entscheidung über beanstandete Wahlen steht
dem Haus der Abgeordneten gemäß seiner Ge-
schäftsordnung zu. Nimmt ein Abgeordneter ein
besoldetes Hof= oder Staatsamt an oder tritt er
in ein solches mit höherem Rang oder Gehalt ein,
so erlischt damit das Abgeordnetenmandat. Eine
Wiederwahl ist jedoch zulässig.
Das preußische Dreiklassenwahlsystem mit seinen
Mängeln und Ungereimtheiten, das mit seinen
Willkürlichkeiten den Anforderungen moderner
Kulturstaaten in keiner Weise mehr entsprechen
kann, hat in der Offentlichkeit eine immer stärker
werdende Kritik erfahren. Bismarck selbst hat es
Wahlrecht.
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bereits am 28. März 1867 im Norddeutschen
Reichstag dahin beurteilt, daß „ein widersinnigeres,
elenderes Wahlgesetz nicht in irgend einem Staat
ausgedacht worden“ ist. Schon 1859 wurde ein
Antrag auf Einführung des geheimen Stimm-
rechts eingebracht. Ein bezüglicher Antrag des
Abgeordneten Stern (Frankfurt) scheiterte 1883
an dem Widerstand der Regierung. Wiederholt
wurde der Antrag auf Einführung des Reichs-
tagswahlrechts gestellt, so 1873 von seiten des
Zentrums. Der Antrag wurde damals abgelehnt,
und zwar von einem Abgeordnetenhaus, in wel-
chem die Linke über die große Mehrheit verfügte.
Der Ruf nach einer durchgreifenden Wahlrechts-
reform erscholl namentlich im letzten Jahrzehnt
immer lauter, und wiederholt wurden entsprechende
Anträge in der Kammer eingebracht. Die „orga-
nische Fortentwicklung des Wahlrechts“, welche
dem neu zusammengetretenen Landtag in der
Thronrede vom 20. Okt. 1908 in Aussicht ge-
stellt wurde, nahm greifbare Gestalt an in dem
Gesetzentwurf vom 4. Febr. 1910. Dieser behielt
das Dreiklassensystem im Prinzip bei, suchte es
aber zu mildern einmal durch die sog. Maximie-
rung, wonach Steuern im Betrag von mehr als
5000 M bei der Klasseneinteilung nicht in An-
rechnung kommen sollten, und ferner durch Ver-
leihung eines Mehrstimmrechts an die Wahlbe-
rechtigten, die einen gewissen Bildungsgrad auf-
weisen konnten, sog. Kulturträger. Im übrigen
hatte der Entwurf eine direkte, aber öffentliche
Wahl vorgesehen. Ein Kompromiß zwischen Kon-
servativen und Zentrum setzte zwar an Stelle der
direkten Wahl wieder die indirekte, dafür sollte
aber die Wahl der Wahlmänner durch die Ur-
wähler geheim sein. Ferner wurden Anderungen
bezüglich der Maximierung und der Kulturträger
vorgenommen. In dieser Form fand die Vorlage
in den beiden von der Verfassung verlangten Ab-
stimmungen die Annahme seitens der erforderlichen
Mehrheit des Abgeordnetenhauses. Die Regierung
verlangte jedoch eine Vorlage, der auch die Na-
tionalliberalen und Freikonservativen zustimmen
würden. Im Herrenhaus wurden infolgedessen
wieder die Bestimmungen über die Kulturträger
und die Maximierung geändert und vor allem
auch die seit 1898 gesetzlich festgelegte Driltelung
in den Urwahlbezirken wieder beseitigt. Gerade
hierdurch wäre an die Stelle einer Reform eine
Verschärfung des plutokratischen Charakters des
preußischen Wahlrechts getreten. Als bei der nun-
mehrigen Abstimmung in der Zweiten Kammer am
28. Mai 1910 mit Ausnahme der Nationallibe-
ralen, Freikonservotiven und einiger Konservativen
das ganze Abgeordnetenhaus gegen diese Vorlage
stimmte, zog sie die Regierung zurück. Damit ist
eine Reform des „elendesten aller Wahlsysteme“"
wiederum in die Zukunft hinausgeschoben, die
in absehbarer Zeit wenig Aussicht auf eine
gründliche Reform in freiheitlichem Sinn bieten
dürfte.