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alten Judenvolks, die öffentliche Ruhe für das
Chinas (Montesquien, De l’esprit des lois
11, 5). Allerdings vermag auch der einzelne im
Staat dessen Interessen durch private Hand-
lungen verschiedenster Art, durch Befolgung der
vom Staat an ihn gerichteten allgemeinen und
besondern Vorschriften und durch Taten, die über
das Minimum der ihm auferlegten Rechtspflichten
hinausgehen, wahrzunehmen. Was die Staats-
akte von dieser Tätigkeit unterscheidet, ist der Um-
stand, daß jene von Organen des Staats, d. h.
Personen, denen die objektive Rechtsordnung die
entsprechende Kompetenz (d. h. Recht und Pflicht
zu bestimmten Amtshandlungen) zuweist, vor-
genommen werden, also ein formal zuristisches
Moment.
Die juristische Begriffsbestimmung hat zu einer
Einengung dieses umfassenden Staatsverwaltungs-
begriffs durch Ausscheidung gewisser Staatstätig-
keiten geführt. Indem man die Staatsfunktionen
zu systematisieren suchte, stellte man gewisse Staats-
tätigkeiten einer Staatsverwaltung im engeren
Sinn entgegen.
Dabei ging die Staatsrechtswissenschaft in viel-
fach wechselnder Folge entweder von einem mate-
riellen oder einem formellen Prinzip aus: sie zog
entweder die Objekte, auf die sich die Staatstätig=
keit jeweils direkt oder indirekt erstreckte, oder aber
den Zuständigkeitsumfang der einzelnen Staats-
organe als das für die Klassifizierung wesentliche
Merkmal heran. (In dieser Hinsicht waren von be-
sonders nachhaltiger Wirkung die Lehren von Ari-
stoteles, Locke und Montesquieu.) Für die Er-
kenntnis des Wesens der Staatstätigkeiten hat
nur ein nach objektiven Gesichtspunkten gebildeter
Begriff Bedeutung. Die Art der Verteilung der
Kompetenzen, ihre Beschränkungen und Er-
weiterungen, sind zwar wichtige politische Pro-
bleme, und ihre Erörterung gibt, sofern sie sich
auf die zu einer bestimmten Zeit bestehende Funk-
tionensonderung und Funktionenvermischung inner-
halb eines Staats erstreckt, Aufschluß über die be-
treffende Staatsform; sie tut dies indes nicht in
Bezug auf das Wesen der sich in monarchischen
oder republikanischen, in aristokratischen oder de-
mokratischen Staaten, in absoluten, konstitutio-
nellen oder parlamentarischen Monarchien ab-
spielenden Staatsaktionen, die als menschliche,
namens einer Rechtsgemeinschaft vorgenommene
Handlungen nur nach Grund, Zweck und Erfolg
erschöpfend gewürdigt werden können, während
das zu ihnen berechtigte und verpflichtete Subiekt
als solches, insbesondere auch in Ansehung des
Umstands, ob es auch die rechtliche Zuständigkeit
zu andern Handlungen als Organ der Gemein-
schaft besitzt, für diese Frage ohne Bedeutung ist.
Ja, um zu erkennen, ob das Subjekt einer Staats-
funktion außer der Kompetenz zu der Gattung
von Handlungen, zu welcher die vorgenommene
als Spezies gehört, noch weitere Rechtskompe-
tenzen besitzt, muß bereits das Unterscheidungs-
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Staatsverwaltung usfw.
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merkmal beider Gattungen, also ein materielles,
objektives, von der Form der Staatsakte, d. h. in
dem hier verwendeten Sinn von dem Subjekt der
Staatsaktionen als solchem unabhängiges Krite-
rium, feststehen.
Als Niederschlag der modernen Theorie über
die materielle Funktionensonderung können fol-
gende Grundsätze gelten: Die Macht der Recht-
setzung besteht in der Befugnis, jedem im Staat
durch abstrakte Normen gewisse Betätigungen vor-
zuschreiben und andere zu untersagen, also ein
Sollen und als Bestandteil desselben eine Grenze
des Dürfens vorzuschreiben.
Die richterliche Gewalt ist die Befugnis, nach
einer Unterordnung konkreter Fälle unter die ab-
strakte Rechtsnorm in concreto hinsichtlich der
Rechts= und Pflichtstellung der beteiligten Rechts-
subjekte auszusprechen, was die Rechtsregel in ab-
stracto anordnet.
Die verwaltende oder vollziehende Staatstätig-
keit beruht einerseits auf der Macht der Voll-
ziehung der Gesetze, anderseits aber auch auf
der freien (d. h. der sich frei vom Zwang des
Rechts vollziehenden), innerhalb der Schranken des
Rechts vor sich gehenden Tätigkeit des Staats zur
Verwirklichung seines Zwecks, nämlich der För-
derung des Gesamtwohls seiner Glieder.
Verhältnismäßig nur vereinzelt wird der Ge-
setzgebung allein die Verwaltung im weiteren
Sinn, welche die Justiz und die Verwaltung im
engeren Sinn umfaßt, gegenübergestellt.
2. Das Verhältnis der Staatsver-
waltung zur Gesetzgebung. Was zunächst
das unterscheidende Merkmal der Staatsverwal-
tung gegenüber der Gesetzgebung als der Anderung
des allgemein verbindenden Staatswillens betrifft,
so wird dieses in der neueren Theorie zum Teil
dadurch verwischt, daß man der Rechtsnorm, dem
Produkt der gesetzgebenden oder rechtssetzenden
Tätigkeit, das Erfordernis der Allgemeinheit ab-
spricht.
Denn die Erledigung konkreter oder individueller
Angelegenheiten ist eben das Charakteristikum der
verwaltenden Staatstätigkeit gegenüber der rechts-
setzenden, und anderseits würde es bei der Existenz
von Individualrechtssätzen auch an einem innern
Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen und solchen
Verwaltungsakten fehlen, die gleichfalls ein Be-
sehls-, Gebots= oder Verbotsmoment enthalten.
Eine Ordnung und insbesondere eine Rechts-
ordnung wird in die Verhältnisse einer des Rechts
noch entbehrenden Rechtsgemeinschaft nur durch
eine allgemeine Verhaltensbestimmung für deren
Glieder gebracht. Wenn ohne eine solche lediglich
Einzelbeschlüsse gefaßt werden, die jederzeit ihrem
ganzen Inhalt nach von früheren abweichen
können, ohne daß allgemein bestimmte Organe
die Zuständigkeit zu dieser Beschlußfassung haben,
so sind die Angelegenheiten der Gemeinschaft einem
derartig willkürlichen Wechsel unterworfen, daß sie
weder als geregelt noch als geordnet zu betrachten
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