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Im konstituierenden Reichstag trat er dem „bun-
desstaatlich-konstitutionellen Verein“ bei, einer
kleinen Gruppe von 17 Großdeutschen, der aus
Altpreußen nur Hermann v. Mallinckrodt an-
gehörte. Windthorst war Vorsitzender der Gruppe.
Der neuen Bundesverfassung, welche unter großen
Schwierigkeiten zustande kam, stimmte Windt-
horst nicht zu, weil sie ihm zu zentralistisch war.
Im preußischen Abgeordnetenhaus schloß er sich
zunächst keiner Fraktion an; mit Bezug hierauf
schreibt Fürst Bismarck in seinen „Erinnerungen“:
„Es bestand, ehe die Zentrumspartei sich bildete,
eine Fraktion, die man als Fraktion Meppen be-
zeichnete; sie bestand, soweit ich mich erinnere,
aus einem Abgeordneten, einem großen General
ohne Armee; indessen, wie Wallenstein, ist es ihm
gelungen, eine Armee aus der Erde zu stampfen
und sich damit zu umgeben.“
Die Ereignisse des Jahres 1870: die Prokla-
mierung der lehramtlichen Unfehlbarkeit des
Papstes und der deutsch-französische Krieg mit
seinem für das Deutsche Reich so siegreichen Aus-
gang, reizten zu dem Versuch, die katholische Kirche
der sog. Staatsraison unbedingt dienstbar zu
machen. Aus der für die Katholiken alsbald be-
drohlich sich gestaltenden kirchenpolitischen Lage
erwuchsen, wie der frühere Führer der konservativen
Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses und
spätere Hospitant des Zentrums, Ludwig v. Ger-
lach, bezeugte, „naturgemäß und legitim“ die
Zentrumsfraktionen des preußischen Abgeordneten-
hauses (Dez. 1870) und des deutschen Reichstags
(März 1871) (s. d. Art. Parteien, politische
Bd III, Sp. 1595 ffl. Windthorst gehörte zu den
ersten Mitgliedern beider und wurde mehr und
mehr der anerkannte Führer, so viele andere her-
vorragende Persönlichkeiten auch an seiner Seite
tätig waren.
Man hat besonders in den erregten Zeiten der
kirchenpolitischen Kämpfe der 1870er und 1880er
Jahre gegen Windthorst oft den Vorwurf er-
hoben, daß es ihm mit der katholischen Gesinnung,
welche er im öffentlichen Leben betätigte, nicht
ernst sei, daß er den Katholizismus lediglich in
den Dienst des Welfentums gestellt habe. Noch
zu Anfang des Jahres 1887 schrieb die „Nord-
deutsche Allgemeine Zeitung“, damals das journa-
listische Sprachrohr des Fürsten Bismarck: „Windt-
horst „spiele" den gläubigen Katholiken“. Auf der
vorletzten Seite der von Bismarck hinterlassenen
„Gedanken und Erinnerungen“ findet sich der oft
zitierte Ausspruch: „Windthorst, politisch lati-
tudinarian, religiös ungläubig“. In den Lebens-
erinnerungen von Robert v. Mohl (Stuttgart und
Leipzig 1902) ist der gleiche Vorwurf wiederholt
worden: „Hauptsächlich trat ihm (Windthorst)
entgegen, daß niemand an eigne Überzeugung bei
ihm glaubte. Er war ein hochbegabter Advokat,
aber keine Spur von Fanaliker oder Märtyrer für
irgend eine Sache. Als taktischer Parteiführer
der Ultramontanen mußte er wohl oder übel deren
Windthorst.
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Standpunkt annehmen und auch zuweilen, wenn
schon selten und kühl genug in ihrem Sinn reden;
aber für einen eifrigen Katholiken hielt ihn kein
Mensch, schwerlich die Einsichtigeren der Partei
selber.“ Endlich hat der frühere Abgeordnete
Kulemann in seinen (1910 veröffentlichten) „Erin-
nerungen" keinen Anstand genommen, zusschreiben:
„Ich habe den Eindruck gewonnen, daß es Windt-
horst nicht darum zu tun war, ideale Ziele zu er-
reichen, und daß selbst das zur Schau getragene
Interesse für die katholische Kirche im Grund nur
Aushängeschild war, das er benutzte, um die aus-
einandergehenden Richtungen innerhalb seiner
Partei zusammen zu halten. Jedenfalls war er
zunächst Welfe und erst in zweiter Linie Katholik
und Ultramontaner.“
Es muß vorweg auffallen, daß die Verdäch-
tigung der religiösen Uberzeugungstreus Windt-
horsts sich erst hervorwagte, nachdem er begonnen
hatte, in der deutschen Reichspolitik seine hervor-
ragende Rolle zu spielen. In seiner hannoverschen
Zeit hat, obwohl er doch schon bald im öffent-
lichen Leben sich geltend machte, niemals dergleichen
verlautet. Im Gegenteil fehlt es nicht an unver-
dächtigen Zeugnissen dafür, daß im ganzen Land
Hannover Windthorst als ein überzeugter Katholik
und entschiedener Vertreter berechtigter katholischer
Interessen galt. Im Heft 4 (1910/11) des „Hoch-
land“ hat der Freiburger Universitätsprofessor
Finke in einem Aufsatz „Aus Windthorsts jüngeren
Jahren“ dafür neues beachtenswertes Material
beigebracht. Wertvoll ist namentlich ein im Jahr
1841 erstatteter Bericht des protestantischen Land-
drosten Grafen Wedel an den ebenfalls protestan-
tischen hannoverschen Justiz= und Unterrichts-
minister Frhrn v. Stralenheim über den damals
31 Jahre alten Advokaten Windthorst, welcher
die Stelle eines katholischen weltlichen Konsistorial=
rats in Osnabrück erhalten sollte. In dem Be-
richt heißt es: „Er ist ein eifriger Katholik, und
daher, nicht weniger aber auch seines offenen kräf-
tigen Charakters wegen genießt er das Zutrauen
der katholischen Geistlichkeit in hohem Grad, ein
Umstand, der gewiß und zumal bei der etwas
unklaren und schwierigen Stellung des Konsi-
storiums zum Generalvikariat und zur Geistlich-
keit von erheblicher Wichtigkeit ist.“ In derselben
Zeit wandte sich Weihbischof Lüpke von Osna-
brück in derselben Sache an den Minister. In
diesem Brief heißt es: „Die allgemeine Stimme
sowie der allgemeine Wunsch hat sich für den
Advokaten Windthorst entschieden, dessen aus-
gebreitete Praxis ihn mit vielen in Berührung
gebracht hat. Der Diözesanklerus schätzt ihn und
vertraut ihm mehr wie irgend einem andern.“ Am
18. Jan. 1842 wurde dann Windthorst provisorisch
zum Konsistorialrat ernannt. Als die endgültige
nstellung sich verzögerte, mahnte Gras Wedel
in einem Schreiben an den Minister: „Windthorst
hat so das Vertrauen der Geistlichkeit gewonnen,
daß sie nur mit Trauer und Schmerz vernehmen