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Windthorst war zugegen, obwohl ihm der Arzt
die Reise verboten hatte. Auf seinen Wunsch
übernahmen Fabrikbesitzer Franz Brandts in
M.-Gladbach und Rechtsanwalt Karl Trimborn
in Köln den Vorsitz. Es darf als feststehend an-
genommen werden, daß vor der Gründung des
Volksvereins in seiner jetzigen Gestalt in einigen
beteiligten Kreisen beabsichtigt war, einen Verein
zu gründen zur Abwehr der Angriffe des Evan-
gelischen Bundes und zur Vertretung katholisch-
religiöser Interessen. Gegen ersteren Gedanken
wandte Windthorst sich mit Entschiedenheit; er
befürchtete schlimme Folgen von einer derart or-
ganisierten konfessionellen Polemik, wenn sie auch
nur als Abwehrpolemik gedacht sei. Während
längerer Vorverhandlungen (in Frankfurt a. M.,
Mainz und Koblenz) tauchte der Gedanke auf,
den zu gründenden Verein in erster Linie sozialen
Zwecken dienstbar zu machen, und zwar zur Ab-
wehr der sozialdemokratischen Agitation. Mit der
Verteidigung der christlichen Ordnung in der Ge-
sellschaft sollte die Aufklärung des katholischen
Volks über die Mittel und Wege Hand in Hand
gehen, welche die soziale Hebung der verschiedenen
Stände auf dem Boden der christlichen Gesell-
schaftsordnung zu fördern geeignet sind. Windt-
horst vertrat diesen Gedanken mit Wärme und
gab ihm durch den ganz von ihm herrührenden
Wortlaut des § 1 der Statuten des Volksvereins
Ausdruck: „Zweck des Vereins ist die Bekämpfung
der Irrtümer und der Umsturzbestrebungen auf
sozialem Gebiet sowie die Verteidigung der
christlichen Ordnung in der Gesellschaft.“ Die
allgemein gehaltene Fassung wurde mit der aus-
gesprochenen Absicht gewählt, die Tätigkeit des
Vereins möglichst wenig zu beschränken. Der
Volksverein, heute mit mehr als 700 000 Mit-
gliedern die größte soziale Organisation des Deut-
schen Reichs, zählte bei Windthorsts Ableben be-
reits 100 000 Mitglieder.
Windthorst starb am 14. März 1891 in Berlin
infolge einer Lungenentzündung, der parlamentari-
schen Krankheit. Er wurde auf der Höhe seines An-
sehens vom Tod ereilt. Das felix etiam oppor-
tunitate mortis des alten Römers hat auf ihn An-
wendung gefunden. Wenige Wochen vorher hatte
er die Schwelle des 80. Lebensjahrs überschritten
und aus diesem Anlaß die größten Ehrungen er-
fahren. Mehr denn je stand er im Mittelpunkt
unseres öffentlichen Lebens. In dem Nachruf,
welchen der Reichstagspräsident v. Levetzow ihm
widmete, rühmte er von ihm, er habe durch
seinen weiten Blick den Weltruf eines Poli-
tikers und Parlamentariers und unter den Reichs-
tagsabgeordneten eine Stellung von eminenter Be-
deutung sich erworben. „In= und außerhalb des
Hauses wurde auf seine Meinung über schwebende
Fragen großes Gewicht gelegt, und gar oft ist sein
Wort schwer in die Wagschale gefallen. Auch im
persönlichen Verkehr verstand es der Heimgegangene,
durch Liebenswürdigkeit, Humor und Frische alt
Windthorst.
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und jung an sich zu fesseln. Kaum jemand im
Reichstag wird rechts und links und in der Mitte
so vermißt werden wie diese verehrte kleine Ex-
zellenz#. Sein Leben ist köstlich gewesen, darin ist
Mühe und Arbeit gewesen von Jugend auf bis
ins späteste Greisenalter, und arbeitend ist er ge-
storben.“ Die Preßorgane der verschiedenen Par-
teien zollten, mit wenigen Ausnahmen, dem Ver-
storbenen die höchste Anerkennung. Unter anderem
schrieb Eugen Richter in seiner „Freisinnigen
Zeilung“": „Windthorst ist nicht bloß ein Poli-
tiker und Parlamentarier von Weltruf gewesen,
er war auch eine durchaus volkstümliche Per-
sönlichkeit. Das Volk wird stets von einem
sichern Gefühl geleitet in der Wertschätzung der-
jenigen Männer, welche nach selbständigen, eignen
Überzeugungen, nicht um persönlicher Vorteile,
Ehren und Würden willen dem Vaterland und
dem Gemeinwohl dienen. Windthorst hat zum
Unterschied von andern großen Namen niemals
etwas für sich erstrebt. Windthorst war vor allem
ein Mann des Rechts, ein Anwalt der Volkerechte,
ein Wächter des Verfassungsrechts. Solange er
lebte und sein Wort ausschlaggebend in die Wag-
schale fiel, durfte man sicher sein, daß jeder An-
sturm zur Verminderung der Rechte des Parla-
ments aussichtslos sein würde.“ Und in der
„Straßburger Post“ schrieb Pascal David:
„Mit einem eigentümlichen Gefühl schauen wir
von dem Totenbett aus, auf dem einer der geistes-
schärfsten, einflußreichsten Männer unserer Zeit
ruht, auf die Wandlungen derselben schnelllebigen,
vergeßlichen, wandelbaren Zeit. Noch vor wenigen
Jahren war Windthorst der „welfische Intrigant“,
der „Reichsfeind“, der „böse Geist des geeinigten
Deutschland“. Jetzt fragen, der Kaiser an der
Spitze, die deutschen Fürsten seinem Befinden
nach; die Kaiserin sendet dem sterbenden Greis
dustige Blumenspenden, und die Presse aller
Parteien ist einig in der Versicherung, daß der
Chef einer staatserhaltenden Partei, selbst ein
Staatsmann und ein großer Geist, aus dieser
Zeitlichkeit geschieden. Vom Glanz des Siegers
umstrahlt, liegt Windthorsts sterbliche Hülle auf
der Bahre, an der aller Zwist der Parteien ver-
stummt und nur allgemeine Trauer um einen
hervorragend klugen, fabelhaft gewandten, selbst-
losen und fleißigen Parlamentarier sich kundgibt,
der in die innere Gestaltung Deutschlands epoche-
machend eingegriffen hat.“ Die beiden Zen-
trumsfraktionen nannten in der Mitteilung von
seinem Hinscheiden Windthorst „einen hochbegabten
und hochverdienten Mann, welcher durch uner-
schütterliche Uberzeugungstreue, durch hohe staats-
männische Begabung, durch die überwältigende
Macht seines beredten Worts, zugleich auch durch
seltene Liebenswürdigkeit und Herzensgüte in unge-
wöhnlichem Maß hervorragte". Papst Leo XIII.
rühmte in einem an die Vorsitzenden der beiden Zen-
trumsfraktionen gerichteten Schreiben, Windthorst
habe „in einer für die christliche Religion und das