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pflegt in Deutschland heute unter „Wohl fahrts-
pflege“ zu verstehen die Gesamtheit der auf
Freiwilligkeit beruhenden und teils in wohl-
wollender Fürsorgetätigkeit teils in gegenseitiger
Hilfeleistung bestehenden, planmäßig geordneten
und dauernden Maßnahmen, welche in teils hei-
lender teils vorbeugender Weise eine Beseitigung
der aus der herrschenden Gesellschaftsordnung be-
züglich Beschaffung der nötigen. Lebensbedürfnisse,
Pflege der Sittlichkeit, Erhaltung der Gesundheit,
Förderung des Geistes= und Gemütslebens sowie
der Möglichkeit einer Geltendmachung von Per-
sönlichkeits-= und Standesrechten sich ergebenden
Mißstände erstreben, soweit die letzteren auf dem
Weg rechtlicher Zwangsnormen noch nicht besei-
tigt sind oder überhaupt eine Beseitigung nicht
zulassen.
Die Maßnahmen der Wohlfahrtspflege erstrecken
sich auf Unterweisung und Belehrung des Ver-
stands sowie Erziehung und Gewöhnung des
Willens, geben Anleitung zur Benutzung der schon
bestehenden und erstreben die Schaffung neuer,
planmäßig geordneter und dauernder Veranstal-
tungen zur Verwirklichung der Wohlfahrt der
erwerbsfähigen, nach Sitte, Gewohnheit, Ver-
mögensverhältnissen und Lebenshaltungsformen
den unteren und mittleren Schichten angehörigen
Volkskreise.
Man muß unterscheiden die Wohlfahrtspflege
von caritativer Wohltätigkeit. Es sind auszu-
scheiden die staatlichen und gesetzlichen Maßnah=
men. Die Wohlfahrtspflege hat das Streben nach
Erziehung zur Selbsthilfe. Es ist zu beachten, daß
die Wohlfahrtspflege sich in der Regel erstreckt auf
Gruppen der Gesellschaft im Gegensatz zu der
Individualisierung der Wohltätigkeit und daß sie
diejenigen, für welche die Wohlfahrtseinrichtungen
bestimmt sind, an der Schaffung und Verwaltung
derselben nach Möglichkeit teilnehmen lassen will.
Die Wohltätigkeit sucht der auf Erwerbsun-
fähigkeit beruhenden Not durch Hilfeleistung
für den einzelnen abzuhelfen. So verstehen wir
unter Armenpflege die Lehre von der öffentlichen
und privaten Fürsorge und dem Zusammenwirken
beider zur Besserung der wirtschaftlichen Lage und
der geistig-sittlichen Hebung der arbeitslosen und
arbeitsunfähigen Armen.
In Ubereinstimmung hiermit sagt Professor
Albrecht in seinem „Handbuch der sozialen Wohl-
fahrtspflege“:
„Ein wesentlicher Teil der durch die deutsche
Wohlfahrtspflege.
Versicherungsgesetzgebung auf der einen
Seite und durch die öffentliche Armenpflege
auf der andern gewährleisteten Darbietungen ent-
fällt bei uns in Deutschland aus dem Rahmen der
Wohlfahrtseinrichtungen, die in andern Ländern
den letzteren zugerechnet werden müssen", und so
bildet „die Wohlfahrtspflege das ergänzende Mittel-
glied zwischen denjenigen Leistungen der staatlichen
Arbeiterversicherung auf der einen Seite, auf welche
den arbeitenden Klassen unter gewissen Voraus-
setzungen ein gesetzlicher Anspruch zusteht, und der
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öffentlichen Armenpflege auf der andern, inso-
weit die Gewährung eines Existenzminimums an
die durch gewisse verschuldete oder unverschuldete
Ursachen in den Zustand der Hilflosigkeit Ver-
setzten kraft bestehender Gesetze den öffentlichen
Körperschaften auferlegt ist. die in wichtigen
Zweigen durch die private Wohltätigkeit ihre Er-
gänzung findet.“
Träger der Wohlfahrtseinrichtungen können
sein: Staat, Gemeinde, freie Körperschaften,
Privatpersonen.
Einen bedeutsamen Schritt in der Ausgestal-
tung der Wohlfahrtspflege bedeutete für Deutsch-
land die Errichtung einer mit Hilfe staatlicher
Mittel zu schaffenden Zentralstelle für Wohl-
fahrtspropaganda, welche als freie, aber
vom Staat unterstützte Organisation Anregung
und Belehrung über ein richtiges Vorgehen auf
dem Gebiet der Wohlfahrtspflege bieten sollte.
Es war im Jahr 1891, als auf Anregung und
mit Unterstützung der preußischen Ministerien
für Handel und Gewerbe und der öffentlichen
Arbeiten sowie unter Beteiligung von neun be-
stehenden Korporationen eine solche Einrichtung
ins Leben trat. Als Aufgaben der Zentralstelle
wurden folgende ins Auge gefaßt: 1) Sammlung,
Sichtung, Ordnung und Katalogisierung von
Beschreibungen, Statuten und Berichten über
Einrichtungen zum Besten der unbemittelten Volks-
klassen, 2) Auskunftserteilung auf Anfragen über
Wohlfahrtseinrichtungen, 3) Mitteilung über be-
merkenswerte Erscheinungen auf dem Gebiet der
Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen an Zeitschriften
und Blätter. Diesen Bestimmungen wurde im
Jahr 1898 noch hinzugefügt: 4) Außerdem wird
die Zentralstelle sich angelegen sein lassen, nach
Maßgabe ihrer Mittel und Kräfte durch Veran-
staltungen, welche im vorstehenden nicht genannt
sind, auf dem Gebiet der Arbeiterwohlfahrtsein-
richtungen sich zu betätigen. Die Verwaltung der
Zentralstelle sollte durch den Vorstand (acht
von der Delegiertenversammlung zu wählenden
Mitgliedern, drei von der preußischen Staatsre-
gierung ernannten Mitgliedern und zwei von den
vorstehenden Vorstandsmitgliedern zu kooptieren-
den Mitgliedern), die Delegierten versamm-
lung (Vertreter der beigetretenen Korporationen)
und die vom Vorstand gewählten Geschäfts-
führer erfolgen. Mitglieder wurden im Lauf
der Zeit außer einer großen Anzahl Wohl-
fahrtskorporationen, fast sämtliche preußischen
Zentralbehörden und Reichsämter, fast alle außer-
preußischen Bundesstaaten, ine Reihe Stadtver-
waltungen und L Ge-
neralkommissionen, Kreis- und Bezirksausschüsse,
landwirtschaftliche Vereine, Kammern.
Die Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrich-
tungen, wie sie ursprünglich genannt wurde, erhielt
eine Umgestaltung im Anschluß an den Antrag
des Grafen Douglas im preußischen Abgeordneten-
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haus. Derselbe ging dahin, als behördliche Ein-