Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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pflegt in Deutschland heute unter „Wohl fahrts- 
pflege“ zu verstehen die Gesamtheit der auf 
Freiwilligkeit beruhenden und teils in wohl- 
wollender Fürsorgetätigkeit teils in gegenseitiger 
Hilfeleistung bestehenden, planmäßig geordneten 
und dauernden Maßnahmen, welche in teils hei- 
lender teils vorbeugender Weise eine Beseitigung 
der aus der herrschenden Gesellschaftsordnung be- 
züglich Beschaffung der nötigen. Lebensbedürfnisse, 
Pflege der Sittlichkeit, Erhaltung der Gesundheit, 
Förderung des Geistes= und Gemütslebens sowie 
der Möglichkeit einer Geltendmachung von Per- 
sönlichkeits-= und Standesrechten sich ergebenden 
Mißstände erstreben, soweit die letzteren auf dem 
Weg rechtlicher Zwangsnormen noch nicht besei- 
tigt sind oder überhaupt eine Beseitigung nicht 
zulassen. 
Die Maßnahmen der Wohlfahrtspflege erstrecken 
sich auf Unterweisung und Belehrung des Ver- 
stands sowie Erziehung und Gewöhnung des 
Willens, geben Anleitung zur Benutzung der schon 
bestehenden und erstreben die Schaffung neuer, 
planmäßig geordneter und dauernder Veranstal- 
tungen zur Verwirklichung der Wohlfahrt der 
erwerbsfähigen, nach Sitte, Gewohnheit, Ver- 
mögensverhältnissen und Lebenshaltungsformen 
den unteren und mittleren Schichten angehörigen 
Volkskreise. 
Man muß unterscheiden die Wohlfahrtspflege 
von caritativer Wohltätigkeit. Es sind auszu- 
scheiden die staatlichen und gesetzlichen Maßnah= 
men. Die Wohlfahrtspflege hat das Streben nach 
Erziehung zur Selbsthilfe. Es ist zu beachten, daß 
die Wohlfahrtspflege sich in der Regel erstreckt auf 
Gruppen der Gesellschaft im Gegensatz zu der 
Individualisierung der Wohltätigkeit und daß sie 
diejenigen, für welche die Wohlfahrtseinrichtungen 
bestimmt sind, an der Schaffung und Verwaltung 
derselben nach Möglichkeit teilnehmen lassen will. 
Die Wohltätigkeit sucht der auf Erwerbsun- 
fähigkeit beruhenden Not durch Hilfeleistung 
für den einzelnen abzuhelfen. So verstehen wir 
unter Armenpflege die Lehre von der öffentlichen 
und privaten Fürsorge und dem Zusammenwirken 
beider zur Besserung der wirtschaftlichen Lage und 
der geistig-sittlichen Hebung der arbeitslosen und 
arbeitsunfähigen Armen. 
In Ubereinstimmung hiermit sagt Professor 
Albrecht in seinem „Handbuch der sozialen Wohl- 
fahrtspflege“: 
„Ein wesentlicher Teil der durch die deutsche 
Wohlfahrtspflege. 
  
Versicherungsgesetzgebung auf der einen 
Seite und durch die öffentliche Armenpflege 
auf der andern gewährleisteten Darbietungen ent- 
fällt bei uns in Deutschland aus dem Rahmen der 
Wohlfahrtseinrichtungen, die in andern Ländern 
den letzteren zugerechnet werden müssen", und so 
bildet „die Wohlfahrtspflege das ergänzende Mittel- 
glied zwischen denjenigen Leistungen der staatlichen 
Arbeiterversicherung auf der einen Seite, auf welche 
den arbeitenden Klassen unter gewissen Voraus- 
setzungen ein gesetzlicher Anspruch zusteht, und der 
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öffentlichen Armenpflege auf der andern, inso- 
weit die Gewährung eines Existenzminimums an 
die durch gewisse verschuldete oder unverschuldete 
Ursachen in den Zustand der Hilflosigkeit Ver- 
setzten kraft bestehender Gesetze den öffentlichen 
Körperschaften auferlegt ist. die in wichtigen 
Zweigen durch die private Wohltätigkeit ihre Er- 
gänzung findet.“ 
Träger der Wohlfahrtseinrichtungen können 
sein: Staat, Gemeinde, freie Körperschaften, 
Privatpersonen. 
Einen bedeutsamen Schritt in der Ausgestal- 
tung der Wohlfahrtspflege bedeutete für Deutsch- 
land die Errichtung einer mit Hilfe staatlicher 
Mittel zu schaffenden Zentralstelle für Wohl- 
fahrtspropaganda, welche als freie, aber 
vom Staat unterstützte Organisation Anregung 
und Belehrung über ein richtiges Vorgehen auf 
dem Gebiet der Wohlfahrtspflege bieten sollte. 
Es war im Jahr 1891, als auf Anregung und 
mit Unterstützung der preußischen Ministerien 
für Handel und Gewerbe und der öffentlichen 
Arbeiten sowie unter Beteiligung von neun be- 
stehenden Korporationen eine solche Einrichtung 
ins Leben trat. Als Aufgaben der Zentralstelle 
wurden folgende ins Auge gefaßt: 1) Sammlung, 
Sichtung, Ordnung und Katalogisierung von 
Beschreibungen, Statuten und Berichten über 
Einrichtungen zum Besten der unbemittelten Volks- 
klassen, 2) Auskunftserteilung auf Anfragen über 
Wohlfahrtseinrichtungen, 3) Mitteilung über be- 
merkenswerte Erscheinungen auf dem Gebiet der 
Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen an Zeitschriften 
und Blätter. Diesen Bestimmungen wurde im 
Jahr 1898 noch hinzugefügt: 4) Außerdem wird 
die Zentralstelle sich angelegen sein lassen, nach 
Maßgabe ihrer Mittel und Kräfte durch Veran- 
staltungen, welche im vorstehenden nicht genannt 
sind, auf dem Gebiet der Arbeiterwohlfahrtsein- 
richtungen sich zu betätigen. Die Verwaltung der 
Zentralstelle sollte durch den Vorstand (acht 
von der Delegiertenversammlung zu wählenden 
Mitgliedern, drei von der preußischen Staatsre- 
gierung ernannten Mitgliedern und zwei von den 
vorstehenden Vorstandsmitgliedern zu kooptieren- 
den Mitgliedern), die Delegierten versamm- 
lung (Vertreter der beigetretenen Korporationen) 
und die vom Vorstand gewählten Geschäfts- 
führer erfolgen. Mitglieder wurden im Lauf 
der Zeit außer einer großen Anzahl Wohl- 
fahrtskorporationen, fast sämtliche preußischen 
Zentralbehörden und Reichsämter, fast alle außer- 
preußischen Bundesstaaten, ine Reihe Stadtver- 
waltungen und L Ge- 
neralkommissionen, Kreis- und Bezirksausschüsse, 
landwirtschaftliche Vereine, Kammern. 
Die Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrich- 
tungen, wie sie ursprünglich genannt wurde, erhielt 
eine Umgestaltung im Anschluß an den Antrag 
des Grafen Douglas im preußischen Abgeordneten- 
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haus. Derselbe ging dahin, als behördliche Ein-
	        
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