Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Bodenrente sich beteiligen. Das Reichsamt des 
Innern und verschiedene Stadtverwaltungen haben 
mit den dürftigen gesetzlichen Bestimmungen des 
Erbbaurechts schon Bedeutendes in der Woh- 
nungsreform geleistet, wobei die Schwierigkeit der 
Geldbeschaffung allerdings zu verwickelten Dar- 
lehensverträgen führt; am besten ist es, wenn der 
Grundeigentümer, der das Gelände in Erbbau 
ausgibt, auch das Baugeld liefert. Zur Weiter- 
bildung des Erbbaurechts gehört die reichsgesetz- 
liche Einführung der Wohnungsaussicht über der- 
artige Gebäude, damit sie ordnungsmäßig instand 
gehalten werden, was die Sicherung des Bau- 
kredits erhöht, dann die Erweiterung der Kapital- 
zufuhr durch einfache Geschäftsformen, ferner die 
Kapitalisierung und Mobilisierung der Erbbau- 
rente durch Baukreditbanken nach dem Vorbild 
Englands, wo derartige Bodenzinse eine erst- 
klassige und gesuchte Kapitalsanlage sind. 
Die Gartenstadtbewegung, von England 
seit 1898 zu uns gedrungen, will Städte mit 
Gemeineigentum des Bodens in gartenähnlicher 
Umgebung schaffen, die Bewohner sollen alle Vor- 
teile des städtischen Zusammenlebens, aber auch 
des Lebens in der Natur genießen. Die Grün- 
dung solcher Städte mit selbständigem Wirtschafts- 
leben ist sehr schwierig, leichter dagegen die Bil- 
dung von Gartenvorstädten in der Nähe großer 
Städte, so München, Königsberg, Nürnberg, 
Karlsruhe. England hat bis jetzt drei Garten- 
vorstädte, Letchworth, Sunlight und Bourneville, 
die erste mit bereits 6000 Einwohnern, 14 Fabriken 
und 50 Kaufläden. In Deutschland ist Hellerau 
bei Dresden die erste selbständige Gartenstadt, 
ebenfalls durch Verlegung einer Fabrik entstanden, 
Ende 1910 mit 200 bewohnten Häusern. Die 
Gartenstadtbewegung ist in Deutschland stark im 
Vorschreiten. Unterstützt wird die Wohnungs- 
reform durch freie Organisationen, welche 
die Reformgedanken in die öffentliche Meinung 
tragen: Rheinischer Verein für Kleinwohnungs- 
wesen (Düsseldorf), der deutsche Verein für 
Wohnungsreform, Sitz in Frankfurt, der Ernst- 
Ludwig-Verein — Hessischer Zentralverein zur Er- 
richtung billiger Wohnungen in Darmstadt, der 
Westfälische Verein zur Förderung des Klein- 
wohnungswesens, Sitz in Münster, der bayrische 
Landesverein zur Förderung des Wohnungs- 
wesens, Sitz in München, ähnliche Landesvereine 
in Karlsruhe und Dresden und die österreichische 
Zentralstelle für Wohnungswesen in Wien. Der 
rheinische, bayrische und andere Vereine haben 
Bauberatungsstellen, die den Minderbemittelten 
lechnisch, wirtschaftlich, gesundheitlich und auch 
ästhetisch einwandfreie Lösungen geben mit An- 
passung an die örtlichen Verhältnisse. 
Von den größeren deutschen Staaten sind in 
der Wohnungsreform Hessen und Bayern 
am weitesten voraus, Preußen am meisten zu- 
rück. Eine allgemeine Wohnungsaussicht für das 
ganze Landhaben gesetzlich Hessen, Bayern, Sachsen, 
Wohnungsfrage. 
  
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Baden und Württemberg, einen Zentralwohnungs- 
inspektor haben Hessen und Bayern als lebendige 
Mittelpunkte für alle Reformbestrebungen im Woh- 
nungswesen. Der Preußische Wohnungsgesetz- 
entwurf (Reichsanzeiger vom 1. Aug. 1904) ist 
unter dem Widerstand der durch das Wahlrecht 
privilegierten Interessenten erstickt. Der Woh- 
nungsbau für Minderbemittelte, auch auf dem 
Land, wird finanziell unterstützt durch Hessen 
(Landeskreditkasse, Gesetz vom 6. Aug. 1902 und 
1. Juli 1908) und Bayern (Landeskulturrenten- 
anstalt, Gesetz vom 24. März 1908). Preußen hat, 
weil besonders die Schwerindustrie allmählich auf 
das Land und besonders an die Wasserstraßen 
wandert, sein Rentengutgesetz vom 7. Juli 1891 
durch Verwaltungsmaßnahmen auf Industrie- 
arbeiter ausgedehnt; dabei müßten aber zur Ver- 
hinderung der Mietkaserne entsprechende Vor- 
schriften über Bodenaufteilung, Bau- und Woh- 
nungspolizei rechtzeitig vorschauend auch auf jene 
ländlichen Gegenden ausgedehnt werden. Gute 
neue Landesbauordnungen haben Baden (vom 
1. Sept. 1907), Württemberg (vom 28. Juli 
1910) und Bayern (in der neuesten Fassung 
vom 3. Aug. 1910). Alle die Bestrebungen und 
Leistungen von Privaten und Gemeinden, von 
Gesetzgebung und Verwaltung einzelner Staaten 
entbehren der organischen Zusammenfassung zu 
einem großen Ziel. Das kann nur durch das 
Reich geschehen auf Grund des Art. 4, § 15 der 
Verfassung, wo dem Reich die Aufsicht über das 
öffentliche Gesundheitswesen zugewiesen ist. Nur 
durch ein Reichswohnungsgesetz können die Hin- 
dernisse, die das Dreiklassenwahlsystem besonders 
in Preußen und Sachsen in Staat und Gemeinde 
der Wohnungsreform bereitet, überwunden wer- 
den. Das Reichswohnungsgeset soll aber 
nur ein Rahmengesetz sein, das die einzelnen 
Staaten und Gemeinden auszufüllen und auszu- 
führen haben durch: 1) Erlaß von Mindestvor- 
schriften für Gesundheit (die sich mit den Forde- 
rungen der Sittlichkeit decken); 2) Einführung 
einer allgemeinen Wohnungsaussicht, welche als 
Organ der Wohlfahrtspflege die Ausführung der 
Mindestvorschriften überwacht und überall den 
Mittelpunkt der Bestrebungen zur Verbesserung 
des Wohnwesens bildet; 3) die Umgestaltung 
der Bodenaufteilungspläne und Bauordnungen 
unter Begünstigung des Einfamilien= und Klein- 
hauses; 4) Errichtung besonderer Kassen zur Geld- 
beschaffung für das Kleinwohnungswesen. 
Holland verpflichtet und unterstützt (Gesetz 
von 1901) die Gemeinden in der Wohnungs- 
resorm, ebenso Italien durch ein besonderes 
Kleinwohnungsgesetz von 1903, das auch die Ge- 
nossenschaften begünstigt. Eine ausgebreilete Ge- 
sundheits= und Wohnungsgesetzgebung hat Eng- 
land schon längst, sie wurde 1890 zusammen- 
gestellt und 1909 durch ein Wohnungs= und 
Städtebaugesetz ergänzt; der Grundbesitz gehört 
in großem Maß reichen Privatbesitzern und Körper- 
 
	        
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