Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Verordnungen gegen den Wucher erließ, bestimmt, 
daß auch gegen die Juden streng einzuschreiten 
sei, ein Beweis für die Unrichligkeit der Be- 
hauptung Neumanns (Geschichte des Wuchers in 
Deutschland 292 s), daß die Juden nach dem 
kanonischen Recht außerhalb des Wucherverbots 
standen; aber einmal ließen diese sich von dem 
lukrativen Erwerb durch keine auch noch so blutige 
Verfolgungen abbringen, zum andern waren es 
weltliche Fürsten, wie Heinrich IV., welche die 
Juden gegen eine Geldabgabe mit den weitest 
gehenden Privilegien ausstatteten (Ratzinger 
S. 336 ff). Auch die geistliche Gewalt hat nicht 
stets die nötige Energie gezeigt. Bezeichnend ist 
es, daß der Bischof von Speier, als er 1084 eine 
Neustadt gründen wollte, die Juden durch Privi- 
legien zu ihrer Besiedlung anlockte. In verschie- 
denen mittelalterlichen Städten, wie Köln, Nürn- 
berg, wurden im 13. und 14. Jahrh. die Juden 
den städtischen Patriziern gleichgestellt (Sieveking, 
Die mittelalterliche Stadt, in der Vierteljahrs= 
schrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte II 
11904] 195). Im Lauf der Zeit wurde auch 
von der kirchlichen Obrigkeit den Juden zwar 
nicht der maßlose Wucher, wohl aber ein von der 
Obrigiet festgesetzter Zinsfuß erlaubt (Jacobson 
345). 
Die Scholastik suchte das Zinsverbot nicht 
mehr bloß mit Hinweis auf die Autorität der 
Heiligen Schrift, zu der auch noch die der Väter 
hinzukam, sondern auch im Anschluß an Aristo- 
teles mit Vernunftgründen zu rechtfertigen. Die 
Quintessenz dieser scholastischen Zinslehre ist in 
der obigen Darlegung des Darlehensvertrags ent- 
halten. Während die Väter den Wucher überall 
da gesehen hatten, wo mehr empfangen als ge- 
geben wurde, beschränkten die Scholastiker den- 
selben auf den Gewinn, der aus dem Darlehen 
gezogen wird. Thomas und sein Gegner Duns 
Scotus treffen in dieser Frage zusammen. Eine 
Ausnahmestellung nimmt der berühmte Kanzler 
der Universität Paris, Gerson, ein. Obwohl 
er die scholastische Zinslehre für richtig hielt, 
widerriet er doch auf dem Konzil zu Konstanz 
die Erlassung eines Zinsverbots, da es nicht die 
gewünschten Folgen im Leben haben werde. Das 
Zinsnehmen sei als das kleinere Übel zu gestatten, 
wie es im Alten Testament der Fall gewesen. 
4. Ausnahmen vom kirchlichen Zins- 
verbot. Wurde das ganze Mittelalter hindurch 
prinzipiell an dem Zinsverbot festgehalten, so 
wurden doch unter gewissen Bedingungen Aus- 
nahmen für zulässig erklärt. Auf Grund beson- 
derer Rechtstitel konnte im einzelnen Fall 
ein Mehrbezug über die Darlehenssumme hinaus 
gestattet sein. Es ist nämlich der Ersatz wirklich 
gebrachter und in Geld schätzbarer Opfer ebenso- 
sehr eine Forderung der ausgleichenden Gerechtig- 
keit wie die Wertgleichheit zwischen Leistung und 
Gegenleistung im Tauschverkehr. Solche Rechts- 
oder Zinstitel kommen von außen her zum 
  
Wucher und Zins. 
  
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Darlehen hinzu (titulus mutuo extrinsecus), 
da dieses seinem Wesen nach ein unentgeltlicher 
Vertrag ist. Diese Titel sind der dem Gläubiger 
aus dem Darlehen entstehende Schaden (damnum 
eemergens), der entgehende Gewinn (lucrum 
cessans), die Gefahr, das Kapital zu verlieren 
(bericulum sortis, Risiko), und der schuldbare 
Verzug der Rückzahlung der Darlehenssumme 
(poena conventionalis). Die beiden ersten 
Titel, die den Ersatz des Interesses, des id quod 
interest, gestatten, erfreuten sich anfänglich nicht 
gleicher Berechtigung. Während Thomas von 
Aquin die Forderung eines Ersatzes für erwach- 
senen Schaden dem Mutuator zugesteht — im 
Gegensatz zu Duns Scotus, der denselben „im 
Geist eines Tertullian und Hieronymus ablehnt" 
(Funk, Geschichte 40) — fand der Titel des 
entgehenden Gewinns nicht ohne weiteres An- 
erkennung. Begreiflich; denn der entstehende 
Schaden ist der Verlust eines schon vorhandenen 
Realwerts, der sich in Geld sehr wohl abschätzen 
läßt; der entgehende Gewinn hingegen, der Ver- 
zicht auf lohnende Aussichten, repräsentiert einen 
erst zukünftigen, nur möglichen Wert, der hin- 
sichtlich seiner Realisierung noch vielfach bedingt 
und ungewiß ist. Die bloße abstrakte Möglich- 
keit, etwa in der Zwischenzeit bis zur Rückzahlung 
mit der entliehenen Summe einen Gewinn zu er- 
zielen, genügte nicht, sondern es mußte ein be- 
stimmtes, konkretes Geschäft vom Gläubiger in 
Aussicht genommen sein, zu dessen Betreibung er 
gerade diese Geldsumme, die er dem Schuldner 
leiht, notwendig hatte. Thomas von Aquin scheint 
(S. th. 2, 2, d. 78, a. 2 ad 1) den Titel des 
entgehenden Gewinns zu verwerfen, wenn man 
seine Worte nicht etwa von jenem Gewinn ver- 
stehen will, der nicht aus einem konkreten Geschäft 
mit Sicherheit zu erzielen war. „Wie sehr der 
titulus lucri cessantis ein in seiner konkreten 
Gestaltung erfaßbares, in seinen Erfolgen wenig- 
stens einigermaßen berechenbares, determiniertes 
Geschäft voraussetzte, geht auch daraus hervor, 
daß man verlangte, der Gewinn dieses Geschäfts 
olle nicht zur vollen Höhe im Interessenersatz an- 
gerechnet werden, sondern iuxta aestimationem 
spei et periculi et deductis expensis, nach 
einer wohlbegründeten Ansicht auch mit Abzug 
eines Lohns für die eventuelle eigne Arbeitsleistung 
bei demselben“ (Pesch, Die soziale Befähigung der 
kathol. Kirche 486). Damit der Schuldner seine 
ganze Lage überschauen konnte, war verlangt, daß 
die Forderung eines Schadenersatzes gleich beim 
Abschluß des Vertrags, nicht erst nachher erhoben 
werden sollte. 
Zur Risikoprämie (periculum sortis) ist zu 
bemerken, daß hier neben dem Darlehen noch ein 
Versicherungsvertrag vorliegt, in welchem sich der 
Gläubiger gegen die Gefahr, die Summe zu ver- 
lieren, sicherstellt. Da die Gefahr eine Belästigung 
des Gläubigers darstellt, darf dieser den Entgelt 
dafür auch dann behalten, wenn er nachher die 
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