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ihre Stellung „gegenüber der grauenvoll verderb-
lichen Verirrung des nach Abfall von ihren alt-
bewährten Grundsätzen zu einer allgemeinen bür-
gerlichen Einrichtung gewordenen Zinsnehmens“
erkläre sich nur daraus, daß die Kirche gegenüber
der allgemeinen Gepflogenheit der Menschen macht-
los sei. Das kirchliche Pfründevermögen ist ja
auch in zinstragenden Wertpapieren angelegt.
„Man verbiete darum heute kraft weltlichen Ge-
setzes das freie Zinsnehmen, diese Hauptfreiheit
der gesamten Freiwirtschaft, und diese Freiwirt-
schaft selber wird morgen fast nicht mehr sein!
Niemals eine Beseitigung der Freiwirtschaft ohne
Wiedereinführung und strenge Durchführung des
alten kirchlichen Zinsverbots“ (ebd. S. 74. 77).
Es ist zuzugeben, daß die Freiwirtschaft die Lebens-
luft des Kapitalismus ist, und daß durch sie die
Entfesselung all der technischen und finanziellen
Kräfte gefördert wurde, die zur Freigabe des Zins-
nehmens geführt haben. Gänzlich aussichtslos ist
jedoch, die Rückkehr zu den Wirtschaftsverhält-
nissen des Mittelalters zu fordern. Die Auswüchse,
die sich an die Freiwirtschaft anhängen, sollen be-
schnitten, der extreme Individualismus durch Aus-
gleichung mit den berechtigten Anforderungen der
Gesamtheit auf genossenschaftlichem Weg gemildert
werden. Wenn den kirchlichen Erklärungen stets
die Klausel der Bereitwilligkeit, sich etwaigen Ent-
scheidungen des Apostolischen Stuhls zu sügen,
beigefügt ist, so wird damit die Eventualität vor-
gesehen, daß die heutigen geldwirtschaftlichen Ver-
hältnisse, die dem Geld einen quasiproduktiven
Charakter (Pesch) verleihen, eine Anderung er-
fahren könnten. Eine Rückkehr zu den natural-
wirtschaftlichen, kapitalarmen, technisch überwun-
denen Zuständen der Volkswirtschaft, die im
Mittelalter die Grundlage des Zinsverbots bil-
deten, Verhältnissen des Mittelalters, von denen
noch zu sprechen sein wird, ist aber wohl ausge-
schlossen und ohne eine Preisgabe der materiellen
Kultur auch nicht möglich, wenngleich eine Ein-
dämmung unserer maßlosen Kreditwirtschaft wün-
schenswert, ja notwendig erscheint (vgl. Cathrein
»II 359 ff).
IV. Das Zinsproblem in der Gegenwart.
Das Zinsnehmen gilt heute allgemein als erlaubt;
auch den Klerikern ist es gestattet, und das kirch-
liche Vermögen, soweit es in Geldbesitz besteht, ist
in verzinslichen Wertpapieren angelegt. Funk
(Geschichte 71) meint, die Zinsfrage sei durch
Außerkraftsetzung des Zinsverbots zunächst auf
den Standpunkt zurückgekehrt, auf dem sie sich im
kirchlichen Altertum befunden habe. Aber das ist
nicht zutreffend; denn während die Kirche damals
das Zinsnehmen als sündhaft betrachtete, auch wo
sie es nicht mit Strafe belegte, ist diese Anschauung
infolge des eingetretenen Wechsels der wirtschaft-
lichen Tatsachen heute nicht mehr vorhanden.
Die Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwi-
schen Vergangenheit und Gegenwart liegt in der
Beachtung der Anderungen, die sich in der Neuzeit
Wucher und Zins.
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auf wirtschaftlichem Gebiet vollzogen haben. So-
bald nachgewiesen werden kann, daß das Geld eine
Nutzung gestattet, die nicht zugleich sein Verbrauch
ist, hört es auf, eine res primo usu consumpti-
bilis im strengen Sinn zu sein, und der Zins, der
von einer geliehenen Geldsumme bezahlt werden
muß, verliert damit seinen wucherischen Charakter.
Auf einen solchen Vertrag trifft dann der strikte
* des Mutuums nicht mehr zu (Linsenmann
557).
Die Erlaubtheit des Zinsnehmens beruht auf
der heute nahezu allgemein vorhandenen Möglich-
keit, mit dem Geld sich an irgend einem gewinn-
bringenden Unternehmen zu beteiligen und so
einen Gewinn zu erzielen (Cathrein II 355 fl.
Eine solche Möglichkeit war im Mittelalter keines-
wegs allgemein vorhanden. Zwar war das Geld
auch früher in der Hand des Kaufmanns ein Er-
werbsmittel, das bei dem jedesmaligen Umsatz von
Waren Gewinn abwarf. Solang jedoch die wirt-
schaftlichen Verhältnisse es nicht jedem ermöglichen,
sein Geld zu verwerten, kann es nicht allgemein
als gewinnbringend gelten. Die heutige Volks-
wirtschaft ist Geld= und Kreditwirt-
schaft, die als solche von der mittelalterlichen
stark absticht. Der technische Fortschritt hat die
Erwerbsverhältnisse geradezu revolutioniert, die
moderne Technik beruht auf der zielbewußten Ver-
wertung der Naturwissenschaften. Ist auch die
Maschine in irgend einer Form so alt als die
Menschheit, so ist doch das Maschinenprinzip dem
modernen Wirtschaftsleben eigentümlich (vgl. über
die gewaltigen Umwälzungen die ausgezeichnete
Darstellung bei Sombart, Der moderne Kapitalis-
mus (/2 Bde, 1902) und: Die deutsche Volkswirt-
schaft im 19. Jahrh. (19030). Industrie- und
Verkehrswesen wurden von Grund aus umgestal-
tet. Der handwerksmäßige Kleinbetrieb trat gegen-
über dem kapitalistischen Großbetrieb zurück. Die
Maschine war imstande, mehr und billiger zu pro-
duzieren, sie brauchte Massenabsatz und weckte Be-
dürfnisse, die früher kaum die Vornehmsten und
Reichsten sich gestatten konnten (vgl. Jul. Wolf,
Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsord-
nung ([1892) 378 ff). Es waren keineswegs lauter
volkswirtschaftlich nutzbringende, solide Unterneh-
mungen, die der technische Fortschritt und die
freie Konkurrenz in ungeahnter Zahl ins Leben
riefen, aber alle bedurften des Betriebskapitals.
Je mehr Kapital vorhanden war, auf desto brei-
terer Basis konnte die Unternehmung betrieben
werden, desto größerer Gewinn stand in Aussicht.
Während das Mittelalter nur vereinzelte große
LKaufmannsgesellschaften gekannt hat, entstanden
nunmehr zahlreiche Gesellschaften großen Stils
zu Industrie-, Handels= und Verkehrszwecken.
„Besonders gewannen die Aktiengesellschaften in
allen Kulturländern eine gewallige Ausdehnung.
Die Unzahl von neu entstandenen Erwerbsgesell-
schaften, die zur Erreichung ihrer Zwecke großer
Summen benötigten, zogen alles sonst müßig