Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Interessentheorie ohne weiteres die Zinsberechti- 
gung ganzen Kapitalistenklassen gewährt, die sich 
an der Produktion persönlich gar nicht beteiligen, 
sondern ihr dauernd Lebewohl gesagt haben 
(Pesch, Zinsgrund 47f#. 
Mit der bloßen Möglichkeit einer gewinn- 
bringenden Geldanlage ist der Nachweis, daß aus 
dieser eigentümlichen Fruchtbarkeit des Gelds in 
Kapitalfunktion ein allgemeiner Zinstitel für das 
heutige Gelddarlehen sich ergebe, noch nicht er- 
bracht, da eben die alte Zinstiteltheorie auf dem 
Standpunkt steht, daß das dargeliehene Geld in 
das Eigentum des Schuldners übergehe, folglich 
die Frucht, die es eventuell abwirft, diesem zufalle. 
Ist überdies jene Möglichkeit tatsächlich immer 
vorhanden? Auch wenn man annimmt, daß sie 
es sei und im einzelnen Fall die Wahrscheinlichkeit 
eines Gewinnverlustes ohne speziellen Nachweis 
präsumiert werden dürfe, so folgt daraus noch 
nicht, daß der Beweis des Gegenteils stets und 
überall ausgeschlossen sei, selbst dann, wenn es 
ebident wäre, daß wegen der individuellen Ver- 
hältnisse und Eigenschaften gerade dieses Geld- 
verleihers für ihn die Wahrscheinlichkeit eines Ver- 
lustes ebenso groß, ja größer sei. Die Produk- 
tivität des Gelds ist keineswegs so gewaltig und 
zauberkräftig, daß auch der Ungeschickteste vor 
dem Verlust mit irgend welcher Wahrscheinlichkeit 
sichergestellt wäre (Pesch S. 48). Daher ver- 
zichten zahlreiche Gläubiger darauf, selbsttätig ihr 
Geldkapital fruchtbringend zu verwenden. Die 
Gefahren der Spekulation, der Teilnahme an 
Handelsgeschäften sind so groß, daß besonders 
für den Unkundigen die Möglichkeit des Verlustes 
den Gewinnchancen die Wage hält. Wenn aber 
auch für die meisten Gläubiger eine derartige Aus- 
sicht auf Gewinn gegeben wäre, so war nach dem 
alten Gewinntitel diese Wahrscheinlichkeit durch 
die Individualität des Gläubigers und des Ge- 
schäfts bedingt; der Gewinn mußte in seiner 
wahrscheinlichen Höhe bestimmt sein. Die Idee 
des Schadens= und Interessenersatzes war streng 
individuell gefaßt. „Man ersetzt das Interesse 
stets nach Maßgabe des in individuo erlittenen 
und nachgewiesenen Verlustes. Einen Marktpreis 
für Interesse gibt es nicht so leicht“ (Pesch bei 
Besprechung von Vermeersch, Quaestiones de 
institia 1901, in den „Stimmen aus Maria- 
Laach“ LXII 1902)] 339. Pesch betont die In- 
dividualität des Interessentitels und weist die An- 
nahme eines generellen Interessentitels als all- 
gemeinen Zinsgrunds zurück). Nach dem ur- 
sprünglichen Titel ward ferner gefordert, daß das 
Darlehen die wirkliche Ursache des ausfallenden 
Gewinns und des erwachsenen Schadens sei, weil 
das darzuleihende Geld für ein bestimmtes Ge- 
schäft Verwendung finden sollte. Dies wäre nur 
der Fall, wenn der Darleihende außerdem kein 
Geld zur Führung des Geschäfts verfügbar hätte. 
Dann wäre die Anwendbarkeit des Titels jeden- 
falls keine allgemeine, weil der tüchtige und vor- 
Wucher und Zins. 
  
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sichtige Geschäftsmann je nach Lage der Dinge 
sich eine Summe in Bereitschaft halten wird 
(Funk, Wucher und Zins 130). Es darf auch 
nicht vergessen werden, daß selbst im Mittelalter 
beim Rentenkauf, durch welchen der Kapital- 
umlauf vermittelt wurde, nicht das Vorhandensein 
jenes Titels gefordert wurde. 
Liegt in der Berufung auf die gewaltige Pro- 
duktivität des Geldkopitals die Stärke der neuen 
Interessentheorie, so ist ihre Schwäche in der Aus- 
scheidung der Individualität des Gläubigers und 
eines bestimmten infolge des Darlehens unter- 
lassenen Geschäfts zu erblicken. Die alten Inter- 
essentitel genügen demnach nicht zur Rechtferti- 
gung der allgemeinen Berechtigung des Zinses. 
Mit Recht sagt Ratzinger (S. 282), daß 
nur durch die historische Betrachtungsweise die 
Zinsfrage verständlich wird. Es heiße die Tat- 
sachen auf den Kopf stellen, wenn man eine be- 
griffliche Formulierung (d. h. die Zinstitel), 
welche für ganz andere wirtschaftliche Zustände 
vollständig am Platz gewesen sei, auf gänzlich ver- 
änderte Verhältnisse übertragen wolle. Der 
Interessentitel genügte für die mittelalterlichen 
Zustände, in denen das Zinsnehmen gemeinhin 
verboten, der Bezug von Zins im einzelnen Fall 
erst nachzuweisen war. Das Geld hat heute eine 
andere Bedeutung als ehedem, wenn es auch 
keineswegs unmittelbar produktiv geworden ist. 
Wie auch die neue Interessentheorie geltend macht, 
darf bei der heutigen wirtschaftlichen Lage für den 
Gläubiger wie für den Schuldner eine gewisse 
Leichtigkeit und Wahrscheinlichkeit einer gewinn- 
bringenden Anlage des Gelds präsumiert werden, 
wogegen es nichts verschlägt, wenn auch die Wahr- 
scheinlichkeit nicht von allen realisiert werden kann. 
Dieser Wahrscheinlichkeit begibt sich der Darleiher. 
„Daher ist die Kreditleistung, d. h. die Hingabe 
einer Geldsumme für längere oder kürzere Zeit 
auf Kredit als Gewährung der konkreten Möglich- 
keit einer Ausbeutung jener allgemeinen Wirt- 
schaftstatsache nichts anderes als die Leistung eines 
besondern Werts von seiten des Gläubigers an 
den Schuldner, eines Werts, der nicht bloß durch 
die individuellen Verhältnisse des Schuldners be- 
dingt, nicht bloßer Affektionswert oder rein indi- 
vidueller Vermögenswert ist, sondern Wert in 
Kraft einer allgemeinen wirtschaftlichen Tatsache, 
kurz objektiver Realwert, gemeiner wirtschaftlicher 
Wert.“ Dafür hat der Schuldner ein Aquivalent 
zu bieten; der reine Zins ist darum „nicht Frucht, 
nicht Dividende, nicht Rente, nicht Interessen- 
ersatz, sondern Preis für einen außer dem Ka- 
pital durch die Kreditleistung, in ihrer Totalität 
gefaßt, gebotenen Realwert“. Damit sind die 
Schwächen der Interessentheorie vermieden. Es 
ist nicht nötig, daß ein bestimmtes Geschäft mit 
wahrscheinlichem Gewinn von annähernd be- 
stimmter Höhe in Aussicht genommen sei. Der 
Produktivkredit bildet in den heutigen Verhält- 
nissen den gewöhnlichen Fall des Darlehens; der
	        
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