Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Ausbeutung der Not schon Wucher (Koch, Zins 
und Wucher Sp. 1964). Zwar ist dem Wucher 
das Merkmal der Ausbeutung eigen, aber es 
besteht trotzdem zwischen beiden eiue spezifische 
Differenz (s. unten). Was ist also Wucher? Ju- 
risprudenz und Gesetzgebung, Moral und Philo- 
sophie lassen uns im Stich, wenn es sich darum 
handelt, etwas mehr als einige Merkmale des 
Wuchers zu erfassen, das ganze Wesen des 
Wuchers in einem Begriff darzustellen (Ratzinger 
S. 258). 
Vielfach, besonders in verschiedenen staatlichen 
Gesetzgebungen, wird die Ausbeutung fremder 
Not, Hilfsbedürftigkeit, Unerfahrenheit zu eignem 
Vermögensvorteil als Wesen des Wuchers be- 
zeichnet. Indessen ist diese Begriffsbestimmung un- 
richtig und praktisch fast nicht zu verwerten. Die 
Ausbeutung einer Notlage bildet „lediglich die 
häßliche Schale, den erschwerenden Nebenumstand, 
die Qualifikation, welche zur Ungerechtigkeit des 
Wuchers die Sünde der in besonderer Weise ver- 
letzten Liebe hinzufügt. Eine andere Notlage wird 
nicht vorausgesetzt als die allen Menschen gemein- 
schaftliche, unter Umständen auf fremde Hilfe 
angewiesen zu sein; keine andere Nötigung ist 
wesentlich als der Mißbrauch der wirklichen 
oder vermeintlichen obligatorischen Kraft des ge- 
schlossenen Vertrags“ (Pesch S. 38). Das Mo- 
ment der Ausbeutung fremder Not zu eignem 
Gewinn ist demnach bei der Begriffsbestimmung 
des Wuchers nicht eigens hervorzuheben. Ver- 
anlassung für seine Aufnahme in den Wucher- 
begriff war die Beseitigung des gesetzlichen Zins- 
maximums, durch die das Strafrecht genöltigt war, 
durch Berücksichtigung solcher konkrelen Umstände 
das Wesen des Wuchers festzustellen (ebd. S. 39). 
Jeder Wucher setzt die Geldverlegenheit des Ent- 
leihers als etwas Selbstverständliches voraus (Le- 
Fris S. 920). Auch Caro (S. 144) weist die 
Aufnahme der wirtschaftlichen Eigenschaften des 
Schuldners (Notlage, Leichtsinn, Unerfahrenheit) 
in den Wucherbegriff ab. „Jeder bewucherte 
Schuldner ist entweder notleidend oder leicht- 
sinnig oder unerfahren, da er doch sonst nicht 
einen Vertrag eingehen würde, der ihn früher 
oder später ruinieren muß. Und wenn dem tat- 
sächlich so ist, wozu dann die Aufzählung aller 
möglichen unwirtschaftlichen Eigenschaften des 
Schuldners im Gesetz? Dieselbe kann nur zur 
Folge haben, daß der ohnedies um seinen Kredit 
besorgte und deshalb zur Klage nur selten greifende 
Schuldner um so eher davon zurückgehalten wird, 
da er, um durchzudringen, ja dieselben beweisen 
muß, was ihn notwendigerweise in der öffent- 
lichen Achtung herabsetzt und zugleich das Beweis- 
thema unnötig erschwert.“ Der Wucher ist, wie 
schon bemerlt wurde, keineswegs auf das Dar- 
lehensgeschäft beschränkt, sondern er ist möglich auf 
der ganzen Linie des Kreditverkehrs, d. h. 
solcher Geschäfte, bei welchen die beiderseitigen 
Leistungen der Kontrahenten zeitlich auseinander- 
Wucher und Zins. 
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fallen, nicht „Zug um Zug“ erfolgen. Alle Ge- 
schäfte, bei denen notwendig die Gegenleistung 
nicht gleichzeitig mit der Leistung des einen Kon- 
trahenten erfolgt, also auch die Dienstleistungs-, 
Pacht= und Mietverträge, sind Kreditgeschäfte. 
Der Grund, warum für den Wucherbegriff ein 
prinzipieller Unterschied zwischen Kredit-- und Zug- 
um-Zuggeschäften zu machen ist, liegt darin, daß 
letztere, seien es Kauf= oder Tauschverträge, keine 
dauernde Abhängigkeit begründen und insofern 
für den Übervorteilten weniger gefährlich sind als 
Kreditverträge. Derjenige, der sofort seine Gegen- 
leistung entrichtet, ist nicht in der bedrängten 
Lage, in der sich der auf Kredit Angewiesene, weil 
der nötigen Mittel Entblößte, befindet. Mit dem 
Begriff des Wuchers ist der Begriff eines Kredit- 
verhältnisses (eines Gläubigers und Schuldners) 
notwendig verknüpft. Ebendarum ist Wucher 
nicht dasselbe wie Ausbeutung. Diese ist jeder 
Mißbrauch der wirtschaftlichen Uberlegenheit im 
Verkehr, sowohl bei Zug um Zug= als bei Kredit- 
geschäften, während der Wucher sich auf letztere 
beschränkt. Wendet der Gläubiger Zwang an, um 
den Schuldner zum Versprechen solcher die Ge- 
rechtigkeit verletzenden Vermögensvorteile zu be- 
wegen, so ist Erpressung gegeben; hat er zu diesem 
Zweck einen Irrtum des Schuldners hervorge- 
rufen oder benutzt, so liegt Betrug vor (Caro 
S. 146 ff. 
Der Gegenstand ist an sich gleichgültig; es gibt 
z. B. einen Getreide-, Waren-, Miet-, Häufer-, 
Viehwucher u. dgl. Es wird die Meinung ver- 
treten (Ratzinger S. 360; Koch Sp. 1964), des 
Wuchers könne sich nicht bloß der HKreditgeber, 
sondern auch der Kreditnehmer schuldig machen, 
indem er das gute Vertrauen des Darleihers aus- 
beutet, um sich dessen Vermögen anzueignen. So 
gebe es neben dem betrügerischen auch einen 
wucherischen Bankrott, der den Leichtsinn oder die 
Gutmütigkeit des Darleihers mißbrauche. 
Da der Zins nach dem Obigen als Preis zu 
betrachten ist, der durch allgemeine Schätzung 
auf dem Geldmarkt sich bildet (über den Einfluß 
des Geldvorrats auf die Zinshöhe s. Böhm- 
Bawerk, Zins 952 ff; einen solchen Einfluß be- 
streitet mit guten Gründen Hucke, Das Geld- 
problem), so bildet an sich nicht die Höhe des 
Zinses ein Merkmal des Wuchers, wenn die- 
selbe auf dem großen Markt der Kapitalien im 
freien Verkehr allgemeine Gültigkeit erlangt hat. 
Lexis (S. 907) glaubt, die Bewucherung bilde 
immer einen konkreten Fall der Ausbeutung von 
Person zu Person; wenn sich jemand harten, 
aber allgemein geltenden Bedingungen unterwerfen 
müsse, so liege kein Wucher vor. Aber es kann der 
Marktpreis selbst durch ungerechte Manipulationen 
beeinflußt werden. Es kann, wie es Caro für Ga- 
lizien schildert, das wucherische Gebaren einen 
weiten Umfang annehmen, indem die Geldleute 
den Kreditbedürftigen allgemein ungerechte Bedin- 
gungen diktieren. 
 
	        
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