Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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war, als etwas sittlich Bedenkliches, als ein ver- 
gewaltigender Mißbrauch erscheinen.“ Auch die 
schärfsten Gegner des mittelalterlichen Zinsver- 
bots, wie Endemann, Neumann u. a., kommen an 
der Tatsache nicht vorüber, daß dasselbe den na- 
turalwirtschaftlichen Zuständen des Mittelalters 
entsprochen habe, und daß es einer gesetzgeberi- 
schen Autorität niemals gelungen wäre, dem Ge- 
winnstreben diese Fessel anzulegen, wenn sie nicht 
durch die jeweilige Stufe des Wirtschaftslebens 
gerechtfertigt gewesen wäre. Wenn auch da und 
dort die Möglichkeit einer gewinnbringenden An- 
lage des Gelddarlehens sich ergab, so vergesse man 
nicht, daß das Gesetz nicht die mehr oder weniger 
zahlreichen Ausnahmefälle, sondern den Durch- 
chnitt zu berücksichtigen hat. Nur das eine läßt 
sich vielleicht an dem Verhalten der Kirche aus- 
etzen, daß sie in ihrer unermüdlichen Bekämpfung 
des Wuchers zu sehr an der formale-juridischen 
Betrachtung, die das römische Recht dem Dar- 
lehen angedeihen ließ, festhielt und auch dann noch 
diesen Darlehensbegriff geltend machte, als die 
Veränderungen auf wirtschaftlichem Gebiet das 
Darlehen bereits zur Form des Kapitalgeschäfts 
gemacht hatten. Insofern mag Ratzinger (S. 254f) 
recht haben mit seiner Behauptung, die kano- 
nistische Gesetzgebung und die daraus erwachsene 
staatliche Feststellung des Zinsmaximums habe 
unter dem Einfluß des römischen Rechts den 
Wucher rein formalistisch aufgefaßt. Will man 
es tadeln, daß die Theologen, Moralisten und 
Kanonisten das Zinsnehmen noch so zähe be- 
kämpften, als schon neue Verhältnisse zum Durch- 
bruch gekommen waren, so vergesse man nicht, daß 
es sich um einen allmählich sich vollziehenden Uber- 
gang handelte, der den inmitten desselben Leben- 
den nicht so zum Bewußtsein kam wie denjenigen, 
die vom historischen Standpunkt aus verschie- 
dene Wirtschaftsepochen miteinander vergleichen 
(Cathrein II" 363). Haben ja doch auch zahl- 
reiche bürgerliche Gemeinwesen im 15. und 
16. Jahrh. sich auf den Boden des Zinsverbots 
gestellt, ein Beweis, daß die Okonomie noch nicht 
das entgegengesetzte Rechtsbewußtsein unbedingt 
  
sorderte. Dem Wucher gegenüber hat die Kirche # 
jedoch auch jetzt, da sie dem Zins nicht mehr hin- 
derlich in den Weg tritt, den gleichen Abscheu wie 
damals, als sie nach Lage der Dinge im Zins den 
Wucher bekämpfen zu müssen glaubte. 
Literatur. Von älterer Literatur seien genannt: 
Molinaeus (Dumoulin), Tractatus commercio- 
rum et usurarum (Par. 1555); Salmasius, De 
usuris liber (Leiden 1638); Bentham, Delence of 
Usury (Lond. 1787); Endemann, Studien in der 
romanisch-kanonistischen Wirtschafts- u. Rechtslehre 
bis gegen Ende des 17. Jahrh. (2 Bde, 1874·83; 
hier ist die ältere, namentl. mittelalterl. Lit. ver- 
wertet); ders., Die nationalökonomische Grundlage 
der lanonistischen Wirtschafts- u. Rechtslehre, in 
Hildebrands Jahrbüchern für Nationalökonomie I 
(1863). Unter der Regierung Napoleons III. wurde 
veranstaltet: Enqucte sur ln legislation relative 
Württemberg. 
  
1200 
aux taux de P’intérèet (1865); Hefele, über Rigo- 
rismus im Leben der alten Christen, in Tübinger 
OQuartalschrift 23. Jahrg. (1841); P. Reichensper- 
ger, Gegen die Aufhebung der Wuchergesetze (1860); 
ders., Die Zins= u. Wucherfrage (1879); Neumann, 
Geschichte des Wuchers in Deutschland bis zur Be- 
gründung der heutigen Zinsengesetze im Jahr 1654 
(1868); Funk, Zins u. Wucher (1868); derf., Ge- 
schichte des kirchlichen Zinsverbots (1876); ders., 
Zur Gesch. des Wucherstreits (1901); L. v. Stein, 
Der Wucher u. sein Recht (1880); v. Vogelsang, 
Zins u. Wucher (1884, woselbst reiche Literatur- 
angaben für die letzten drei Jahrhunderte); Scheim- 
pflug, Der Wucher im modernen Geldwesen (1892); 
Faßbender, Die Rettung des Bauernstands aus 
den Händen des Wuchers (1886); Caro, Der Wu- 
cher (1893, mit reichen Literaturangaben); Lehm- 
kuhl, Zins u. Wucher vor dem Richterstuhl der 
Kirche u. der Vernunft, in Stimmen aus Maria-- 
Laach XVI (1879) 470 ff; ders., Deutung u. Miß- 
deutung der kirchlichen Vorschriften über Zins u. 
Wucher, ebd. XVIII (1885) 1ff; Pesch, Die soziale 
Befähigung der kath. Kirche (21899) 418fff; ders., 
Zinsgrund u. Zinsgrenze, in Zeitschrift für kath. 
Theologie (1888) 36 ff 393 ff; Cathrein, Moral= 
philosophie II (51911) 359 ff; Ratzinger, Volks- 
wirtschahn, in ihren sittlichen Grundlagen (21895) 
251 ff: W. u. Z.; Huppert, über foenus nauticum, 
in Katholik, Meiheft 1895; A. M. Weiß, So- 
ziale Frage u. soziale Ordnung (11904) 685/792; 
Die kirchliche Lehre über Kapital, Zins u. Wucher: 
IJ. Wolf, Sozialismus u. kapitalistische Gesell- 
schaftsordnung (1892) 453 ff: Kapitalzins; Bieder- 
lack, Der Darlehenszins (1898); Lexis, Wucher, im 
Handwörterb. der Staatswissenschaften VII2 904 ff; 
v. Böhm-Bawerk, Zins, ebd. 951 f; Koch, Zins u. 
Wucher, in Wetzer u. Weltes Kirchenlexikon 2 XII 
913 f; Jacobson, Wucher, in der Realenzyklopädie 
von Herzog-Hauck :XVII 341 ff; Henricus Hay, 
De mutuo et usura (1902); Schaub, Der Kampf 
gegen den Zinswucher, ungerechter Preis u. un- 
lauterer Handel im Mittelalter (1905); Ruhland, 
System der politischen Okonomie III (1908) 156 ff; 
Hejcl, Alttestamentl. Zinsverbot (1907); Isopes- 
cul-Grecul, Das Wurcherstrafrecht (I, 1906); W. 
Berliner u. R. Engländer, Das österreich. Wucher- 
gesetz, histor. u. systemat. Darsellung mit einem 
Anhang über die Reformfrage (1911). Sehr treff- 
liche Gedanken über das Zinsproblem entwickelt 
uch I. Hucke, Das Geldproblem u. die soziale 
Frage (1903). Vgl. ferner: v. Böhm-Bawerk, Ka- 
pital u. Kapitalzins (2 Bde, 21900/01); Schiele, 
Über den natürl. Ursprung der Kategorien Rente, 
Zins u. Arbeitslohn (1906); Neurath, Sinken des 
Zinsfußes (1893); Voye, Höhe der verschiedenen 
Zinsarten, Entwicklung des Zinsfußes in Preußen 
1807/1900 (1902); Homburger, Entwicklung des 
Zinsfußes in Deutschland 1870/1903 (190%); H. 
Albert, Geschichtl. Entwicklung des Zinsfußes in 
Deutschland 1895/1908 (1910); P. Wallich, Bei- 
träge zur Gesch, des Zinsfußes von 1800 bis zur 
Gegenwart, Jahrbücher für Nationalök u. Statistik 
3. Folge, 42. Bd (1911), 289 ff; Laeifer Unser 
Kreditrecht u. seine Reformbedürftigkeit (1911). 
Walter.] 
Württemberg. l. Geschichte. Von den 
ältesten Ansiedlern im heutigen Württemberg geben 
die im Süden des Landes veranstalteten Höhlen-
	        
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