Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Es bestand seit Jahrhunderten eine ziemlich freie 
Gemeindeverfassung, die bei der Neureglung 1822 
im wesentlichen erhalten blieb; die städtischen und 
ländlichen Gemeinden wurden gleich behandelt; dem 
Gemeinderat wurde zur Vertretung der Bürger- 
schaft ein gewählter Bürgerausschuß gegenüber- 
gestellt. 1849 wurden einige Anderungen ge- 
troffen; 1855 bestimmte ein Gesetz die Hand- 
habung der Staatsaussicht über verwahrloste 
Gemeinden; ein solches vom 16. Aug. 1875 
regelte die Bewirtschaftung und Beaufsichtigung 
der Waldungen; endlich wurde durch Gesetz vom 
8. Aug. 1903 das Besteuerungsrecht der Gemein- 
den und Amtskörperschaften geregelt. Vielfache 
Anderungen brachte die Gemeindeordnung vom 
28. Juli 1906 nebst der dazu ergangenen Voll- 
zugsverfügung vom 6. Okt. 1907; insbesondere 
wurde die Lebenslänglichkeit der Ortsvorsteher auf- 
gehoben und auf die Verschiedenheit der größeren 
und kleineren Gemeinden Rücksicht genommen. 
Durch die Bezirksordnung vom 28. Juli 1906 
und Vollzugsverfügung vom 30. Okt. 1907 wur- 
den die sämtlichen Vorschriften zusammengefaßt, 
die Verfassung und Verwaltung der autonomen 
Amtskörperschaften wie der staatlichen Bezirks- 
verwaltung geregelt. Organe der Gemeinde sind 
der Gemeinderat, der Bürgerausschuß, der Orts- 
vorsteher und die Gemeindebeamten. Die Zahl 
der Gemeinderatsmitglieder beträgt je nach der 
Größe der Gemeinde 4—42; sie werden auf 
6 Jahre gewählt, alle 2 Jahre scheidet ein Drittel 
aus; bei der Wahl entscheidet relative Stimmen- 
mehrheit. Die Mitglieder des Bürgerausschusses 
werden auf 4 Jahre gewählt, je nach 2 Jahren 
scheidet die Hälfte aus; seine Hauptaufgabe be- 
steht in der Uberwachung der Gemeindeverwal- 
tung. Der Ortsvorsteher wird auf 10 Jahre 
gewählt; seine Wahl bedarf der Bestätigung 
durch die Regierung; die Ortsvorsteher sind 
zugleich Vollstreckungsbeamte (auch Zustellungs- 
beamte) und Standesbeamte. Den Gemeinden 
sind durch Gesetz vom 8. Aug. 1903 folgende 
Steuern eingeräumt: Wohnsteuer, Umlage auf 
Grundeigentum, Gebäude und Gewerbe, Ka- 
pitalsteuer, Einkommensteuer, Verbrauchsab- 
gaben, Grundstücksumsatzsteuer, Hundeabgabe, 
Gemeinde-Wandergewerbesteuer. Das staatliche 
Ausfsichtsrecht erstreckt sich auf die örtliche Polizei- 
verwaltung, die Gemeindeverwaltung, die Ver- 
waltung der Gemeindestiftungen und die Bewirt- 
schaftung der Gemeinde- und Stiftungswaldungen. 
Den Amtskörperschaften steht die Pflege der ge- 
meinsamen Interessen der Gemeinden zu (gemein- 
nützige Anstalten und Einrichtungen). Zur näheren 
Reglung dürfen die Amtskörperschaften Bezirks- 
satzungen aufstellen. Organe sind die Amtsver- 
sammlung und der Bezirksrat sowie die Beamten 
und Unterbeamten der Amtskörperschaft. Die 
Amtsversammlung besteht aus dem Oberamtsvor- 
stand und 20—30 Abgeordneten der Gemeinden; 
sie verwaltet alle Angelegenheiten der Amtskörper- 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
Württemberg. 
  
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schaft, deren Erledigung nicht gesetzlich dem Be- 
zirksrat oder den Körperschaftsbeamten zugewiesen 
ist; die Verhandlungen sind öffentlich. Der Be- 
zirksrat besteht aus dem Oberamtsvorstand und 
aus 6 weiteren Mitgliedern, die von der Amts- 
versammlung auf 3 Jahre gewählt werden; er 
besorgt die fortlaufenden Geschäfte der Amts- 
körperschaftsverwaltung, ist aber an die Beschlüsse 
und Weisungen der Amtsversammlung gebunden, 
seine Verhandlungen sind für die Regel öffentlich. 
Die Kassen= und Rechnungsgeschäfte der Amts- 
körperschaft besorgt der Oberamtspfleger. Für die 
Landesverwaltung kommen als besondere Gesetze 
in Betracht (soweit nicht die Reichsgesetze Geltung 
haben wie im Armenrecht, Arbeiterversicherung, 
Gesundheitspolizei) für die Baupolizei die Bau- 
ordnung vom 28. Juli 1910, das Gesetz über 
Feuerversicherung vom 14. März 1853, für Wege- 
recht die Wegeordnung vom 23. Okt. 1808 (eine 
neue Wegeordnungistin Vorbereitung), für Wasser- 
recht das Wassergesetz vom 16. Dez. 1900, für 
Feldwege, Trepp= und Überfahrtsrechte vom 
26. März 1862, für Feldbereinigung vom 30. März 
1886, für Forstpolizei Gesetz vom 8. Sept. 1879, 
für Jagdpolizei Gesetz vom 27. Okt. 1855 (ein 
neues ist in Vorbereitung), für Fischerei Gesetze 
vom 27. Nov. 1865 und 7. Juni 1885, für das 
Bergwesen vom 7. Okt. 1874. 
V. Kirche. Durch die Verfassung von 1819 
ist den drei christlichen Konfessionen das Recht der 
freien öffentlichen Religionsübung und der volle 
Genuß ihrer Kirchen-, Schul= und Armenfonds 
zugesichert. Es ist ihnen die Eigenschaft als öffent- 
liche Körperschaft zuerkannt; dies trifft auch für 
die israelitische Bekennerschaft seit 1828 zu. Die 
religiösen Dissidenten können Vereine bilden, ohne 
staatliche Genehmigung (Gesetz vom 9. April 
1872); diesen steht das Recht der freien gemein- 
samen Religionsübung sowie der selbständigen 
Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten 
zu. Die Anordnungen in Betreff der innern 
Angelegenheiten bleiben der verfassungsmäßigen 
Autonomie (kirchliche Gesetzgebung und Kirchen- 
regiment) einer jeden Kirche überlassen. Dem 
König gebührt das obersthoheitliche Schutz= und 
Aussichtsrecht über die Kirchen. Vermöge desselben 
können die Verordnungen der Kirchengewalt ohne 
vorgängige Einsicht und Genehmigung des Staats- 
oberhaupts weder verkündet noch vollzogen werden 
(dieser Satz gilt nicht mehr für die katholische 
Kirche, s. u.). Bezüglich der Vermögensverhältnisse 
der evangelischen und katholischen Kirche bestimmt 
die Verfassung, daß die abgesonderte Verwaltung 
des evangelischen Kirchenguts des vormaligen Her- 
zogtums Württemberg wieder hergestellt werde. 
Dies ist bis jetzt nicht geschehen; aber die Vor- 
arbeiten für die Ausscheidung sind seit längerer 
Zeit im Gang. Ebenso soll die katholische Kirche 
zur Bestreitung derjenigen kirchlichen Bedürfnisse, 
wozu keine örtlichen Fonds vorhanden sind, oder 
die vorhandenen Fonds nicht zureichen und beson- 
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