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führbar; denn bei vielen Angelegenheiten ist eine
verschiedenartige Behandlung wegen der Ver-
schiedenartigkeit der lokalen Verhältnisse erforder-
lich, die von einer einzelnen Person nur schwer
streng sachlich durchgeführt werden kann. Dies
gilt insbesondere von den Verschiedenheiten in den
klimatischen und Terrainverhältnissen, in der Dichte
und der Nationalität der Bevölkerung und der
Ertragsfähigkeit des Bodens uff., sowie in den
sich hieraus ergebenden kulturellen Zuständen.
Außerdem bietet das räumliche Getrenntsein der
Personen, denen gegenüber die Staatsakte vor-
genommen werden sollen, bei vielen derselben so
große Schwierigkeiten, daß eine lokale Teilung
geradezu zur Notwendigkeit wird. Nur für An-
gelegenheiten, die seltener vorkommen, insbeson-
dere für die Staatsakte allerwichtigster Art, z. B.
Kriegserklärung und Friedensschluß, Begnadi-
gung, Ernennung höchster Staatsbeamten (Üüber-
haupt die monarchischen Kompetenzen), ist eine
zentralistische Gestaltung der Rechtskompetenzen
üblich und auch erforderlich. Kann daher ein
Gemeinwesen, wenn es nicht zerfallen soll, einer
starken in den wichtigsten Dingen, besonders
auch hinsichtlich der Kontrolle der untergeordneten
Organe, entscheidenden Zentralgewalt nicht ent-
behren, so müssen die übrigen Angelegenheiten
der lokalen Einheiten von Organen mit lokal ab-
gegrenzter Zuständigkeit wahrgenommen werden,
und zwar muß man eine dezentralistische Gestal-
tung nicht nur bei der Bildung von durch Wahlen
gebildeten Repräsentanzen dieser Einheiten, son-
dern bei jeder örtlich abgegrenzten Zuständigkeit
innerhalb des Gemeinwesens annehmen, woraus
sich einer der wichtigsten Unterschiede zwischen dem
Begriff der Dezentralisation und der Selbstver-
waltung ergibt.
Die Dezentralisation des Staats durch die
Bildung von gewählten Repräsentanzen lokaler
Einheiten ist natürlich auch von der größeren
oder geringeren Einsicht der Bewohner jener Ein-
heiten abhängig. Dies erklärt den Umstand, daß
den Bewohnern der Städte im allgemeinen früher
das Recht der Selbstorganisation gewährt wurde
wie denen des flachen Landes. Schon im alt-
römischen Weltreich, in dem nicht einmal die Pro-
vinzen eine autonome Verfassung hatten, besaßen
viele Städte das Recht der Autonomie und der
Bestellung eigner Exekutivorgane. Die Magi-
strate (Duumviri oder ähnlich betitelt) wurden ge-
wählt. Sie hatten die Jurisdiktion und neben
den Dekurionen einen großen Teil der Exekutive.
Allerdings war in den germanischen Staaten der
älteren Zeit, in der Städte nicht existierten, die
Dorfgemeinde diejenige lokale Einheit, der die
Erledigung der wichtigsten Aufgaben überlassen
war. Dies erklärt sich wohl zum Teil aus dem
Fehlen einer starken Zentralgewalt, das eine Folge
des Mangels an genügenden Kommunikations-
mitteln, der Unmöglichkeit einer genaueren Kon-
trolle usw. war. Erst das starke fränkische König-
Zentralisation ufsw.
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tum mit seinem großen Beamtenopparat, der sich
noch nicht aus erblichen Machthabern zusammen-
setzte, konnte einen größeren Teil der Staats-
aufgaben in die Hand nehmen und einen andern
der Markgenossenschaft und vor allem auch den
aufkommenden Städten in des Wortes eigentlicher
Bedeutung „überlassen“.
Das Prinzip der Dezentralisation gilt im wei-
teren Umfang für die staatliche Funktion der
Rechtssetzung als für die der Rechtsausführung;
denn während bei der Rechtssetzung als dem Erlaß
allgemeiner Vorschriften für das Verhalten der
Glieder der Rechtsgemeinschaft immer Angelegen-
heiten mehr oder weniger seltener Natur wahr-
genommen werden, insofern allgemeine Anord-
nungen für Verhältnisse, die fortwährendem Wechsel
unterworfen sind, getroffen werden, handelt es sich
bei der Rechtsausführung gerade um Dinge der
letzten Art. Trotzdem bedingen häufig die beson-
dern Verhältnisse innerhalb einer Rechtsgemein-
schaft auch eine weitgehende Dezentralisation auf
dem Gebiet der Rechtssetzung. Ein klassisches Bei-
spiel hierfür bietet die Osterreichisch = Ungarische
Monarchie. Trotz der seit Maria Theresia und
Joseph II. unternommenen Versuche, das gesamte
für das Reich geltende Recht einheitlich zu ge-
stalten, haben die nationalen Gegensätze die De-
zentralisation auf dem Gebiet der Rechtssetzung
erhalten (vgl. die Verfassung vom 26. Febr. 1861
und das Staatsgrundgesetz vom 21. Dez. 1867).
Alle „nicht ausdrücklich dem Reichsrat vor-
behaltenen Gegenstände der Gesetzgebung“, also
z. B. die Gemeindeangelegenheiten, das Straßen-
wesen, gewisse Schulsachen usw., unterliegen, auch
was die Rechtssetzung anlangt, der Kompetenz der
einzelnen Landtage, allerdings — und hier kommt
wieder das zentralistische Moment zur Geltung —
unter Sanktion der Krone. Ein diesem analoger
Rechtszustand, wenngleich auf andern Gründen
beruhend, bestand in England zur Zeit der Local
Boards. Diese unter der eigentlichen Verwal-
tungseinheit, der County, der alten Grasschaft,
entstandenen Behörden, deren Kompetenz ursprüng-
lich nur das Armenwesen umfaßte, hatten später
eine Fülle von Aufgaben zu erfüllen, welche auf
dem Kontinent den Gemeindeverbänden zufielen.
Eine Gemeinde in deutschem, französischem oder
italienischem Sinn konnte neben ihnen nicht auf-
kommen. In Abweichung von jenen Gemeinden
hatten sie hier das vom Gesichtspunkt der Dezen-
tralisation interessierende Recht, byelaws zu er-
lassen, soweit die laws, die Gesetze des Reichs,
dadurch nicht verletzt wurden, d. h. nicht nur intra
legem, innerhalb des Rahmens der Spezialgesetze,
sondern auch praeter legem, auch in Materien,
mit denen sich die Gesetze der höchsten Staats-
gewalt nicht befaßten, selbständig Anordnungen
zu treffen. Daneben wurde die County immer
mehr Justizbehörde. In den Quarterly Sessions
der Friedensrichter wurde die Zivilgerichtsbarkeit
erster und zweiter Instanz und ein Teil der Ver-