Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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führbar; denn bei vielen Angelegenheiten ist eine 
verschiedenartige Behandlung wegen der Ver- 
schiedenartigkeit der lokalen Verhältnisse erforder- 
lich, die von einer einzelnen Person nur schwer 
streng sachlich durchgeführt werden kann. Dies 
gilt insbesondere von den Verschiedenheiten in den 
klimatischen und Terrainverhältnissen, in der Dichte 
und der Nationalität der Bevölkerung und der 
Ertragsfähigkeit des Bodens uff., sowie in den 
sich hieraus ergebenden kulturellen Zuständen. 
Außerdem bietet das räumliche Getrenntsein der 
Personen, denen gegenüber die Staatsakte vor- 
genommen werden sollen, bei vielen derselben so 
große Schwierigkeiten, daß eine lokale Teilung 
geradezu zur Notwendigkeit wird. Nur für An- 
gelegenheiten, die seltener vorkommen, insbeson- 
dere für die Staatsakte allerwichtigster Art, z. B. 
Kriegserklärung und Friedensschluß, Begnadi- 
gung, Ernennung höchster Staatsbeamten (Üüber- 
haupt die monarchischen Kompetenzen), ist eine 
zentralistische Gestaltung der Rechtskompetenzen 
üblich und auch erforderlich. Kann daher ein 
Gemeinwesen, wenn es nicht zerfallen soll, einer 
starken in den wichtigsten Dingen, besonders 
auch hinsichtlich der Kontrolle der untergeordneten 
Organe, entscheidenden Zentralgewalt nicht ent- 
behren, so müssen die übrigen Angelegenheiten 
der lokalen Einheiten von Organen mit lokal ab- 
gegrenzter Zuständigkeit wahrgenommen werden, 
und zwar muß man eine dezentralistische Gestal- 
tung nicht nur bei der Bildung von durch Wahlen 
gebildeten Repräsentanzen dieser Einheiten, son- 
dern bei jeder örtlich abgegrenzten Zuständigkeit 
innerhalb des Gemeinwesens annehmen, woraus 
sich einer der wichtigsten Unterschiede zwischen dem 
Begriff der Dezentralisation und der Selbstver- 
waltung ergibt. 
Die Dezentralisation des Staats durch die 
Bildung von gewählten Repräsentanzen lokaler 
Einheiten ist natürlich auch von der größeren 
oder geringeren Einsicht der Bewohner jener Ein- 
heiten abhängig. Dies erklärt den Umstand, daß 
den Bewohnern der Städte im allgemeinen früher 
das Recht der Selbstorganisation gewährt wurde 
wie denen des flachen Landes. Schon im alt- 
römischen Weltreich, in dem nicht einmal die Pro- 
vinzen eine autonome Verfassung hatten, besaßen 
viele Städte das Recht der Autonomie und der 
Bestellung eigner Exekutivorgane. Die Magi- 
strate (Duumviri oder ähnlich betitelt) wurden ge- 
wählt. Sie hatten die Jurisdiktion und neben 
den Dekurionen einen großen Teil der Exekutive. 
Allerdings war in den germanischen Staaten der 
älteren Zeit, in der Städte nicht existierten, die 
Dorfgemeinde diejenige lokale Einheit, der die 
Erledigung der wichtigsten Aufgaben überlassen 
war. Dies erklärt sich wohl zum Teil aus dem 
Fehlen einer starken Zentralgewalt, das eine Folge 
des Mangels an genügenden Kommunikations- 
mitteln, der Unmöglichkeit einer genaueren Kon- 
trolle usw. war. Erst das starke fränkische König- 
Zentralisation ufsw. 
  
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tum mit seinem großen Beamtenopparat, der sich 
noch nicht aus erblichen Machthabern zusammen- 
setzte, konnte einen größeren Teil der Staats- 
aufgaben in die Hand nehmen und einen andern 
der Markgenossenschaft und vor allem auch den 
aufkommenden Städten in des Wortes eigentlicher 
Bedeutung „überlassen“. 
Das Prinzip der Dezentralisation gilt im wei- 
teren Umfang für die staatliche Funktion der 
Rechtssetzung als für die der Rechtsausführung; 
denn während bei der Rechtssetzung als dem Erlaß 
allgemeiner Vorschriften für das Verhalten der 
Glieder der Rechtsgemeinschaft immer Angelegen- 
heiten mehr oder weniger seltener Natur wahr- 
genommen werden, insofern allgemeine Anord- 
nungen für Verhältnisse, die fortwährendem Wechsel 
unterworfen sind, getroffen werden, handelt es sich 
bei der Rechtsausführung gerade um Dinge der 
letzten Art. Trotzdem bedingen häufig die beson- 
dern Verhältnisse innerhalb einer Rechtsgemein- 
schaft auch eine weitgehende Dezentralisation auf 
dem Gebiet der Rechtssetzung. Ein klassisches Bei- 
spiel hierfür bietet die Osterreichisch = Ungarische 
Monarchie. Trotz der seit Maria Theresia und 
Joseph II. unternommenen Versuche, das gesamte 
für das Reich geltende Recht einheitlich zu ge- 
stalten, haben die nationalen Gegensätze die De- 
zentralisation auf dem Gebiet der Rechtssetzung 
erhalten (vgl. die Verfassung vom 26. Febr. 1861 
und das Staatsgrundgesetz vom 21. Dez. 1867). 
Alle „nicht ausdrücklich dem Reichsrat vor- 
behaltenen Gegenstände der Gesetzgebung“, also 
z. B. die Gemeindeangelegenheiten, das Straßen- 
wesen, gewisse Schulsachen usw., unterliegen, auch 
was die Rechtssetzung anlangt, der Kompetenz der 
einzelnen Landtage, allerdings — und hier kommt 
wieder das zentralistische Moment zur Geltung — 
unter Sanktion der Krone. Ein diesem analoger 
Rechtszustand, wenngleich auf andern Gründen 
beruhend, bestand in England zur Zeit der Local 
Boards. Diese unter der eigentlichen Verwal- 
tungseinheit, der County, der alten Grasschaft, 
entstandenen Behörden, deren Kompetenz ursprüng- 
lich nur das Armenwesen umfaßte, hatten später 
eine Fülle von Aufgaben zu erfüllen, welche auf 
dem Kontinent den Gemeindeverbänden zufielen. 
Eine Gemeinde in deutschem, französischem oder 
italienischem Sinn konnte neben ihnen nicht auf- 
kommen. In Abweichung von jenen Gemeinden 
hatten sie hier das vom Gesichtspunkt der Dezen- 
tralisation interessierende Recht, byelaws zu er- 
lassen, soweit die laws, die Gesetze des Reichs, 
dadurch nicht verletzt wurden, d. h. nicht nur intra 
legem, innerhalb des Rahmens der Spezialgesetze, 
sondern auch praeter legem, auch in Materien, 
mit denen sich die Gesetze der höchsten Staats- 
gewalt nicht befaßten, selbständig Anordnungen 
zu treffen. Daneben wurde die County immer 
mehr Justizbehörde. In den Quarterly Sessions 
der Friedensrichter wurde die Zivilgerichtsbarkeit 
erster und zweiter Instanz und ein Teil der Ver-
	        
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