Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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waltungsgerichtsbarkeit ausgeübt. Lokale Ver- 
schiedenheiten durchgreifender Art, die in dem 
meist ebenen Land von nicht sehr großem Umfang 
kaum existierten, waren für diese weitgehende De- 
zentralisation der Rechtssetzung nicht maßgebend. 
Vielleicht beruhte sie auf der Vereinigung von 
Gesetzgebungs= und Verwaltungskompetenzen im 
Parlament, das nicht nur die zentrale Legislatur 
hatte, sondern auch die oberste Verwaltungsbehörde 
war, an die die Beschwerden gegen Maßregeln 
der Selbstverwaltungsorgane zu richten waren, 
welche Kombination man möglicherweise durch die 
ausgedehnte Dezentralisation auf dem Gebiet der 
Rechtssetzung auch bei den Local Boards er- 
reichen wollte. Trotz der Beseitigung der alt- 
englischen Selbstverwaltung durch die Lokalver- 
waltungsbill von 1888 für England und Wales 
und von 1889 für Schottland herrscht übrigens 
auch im heutigen öffentlichen Recht Englands weit- 
gehende Dezentralisation und Selbstverwaltung. 
Allerdings wird die Zuständigkeit zur detail- 
lierten Ausgestaltung der Gesetze häufig nach de- 
zentralistischen Gesichtspunkten vorgenommen wer- 
den müssen, weil für sie ähnliche Gesichtspunkte 
einer zentralen Reglung in größeren Gemeinwesen 
entgegenstehen wie für die Exekutive. Dies gilt 
z. B. für das Straßen-, Fluß-, Kanalwesen, die 
Landesforste, die Melioration, die Ent= und Be- 
wässerung, die Arrondierung der ländlichen Güter, 
für die Viehzucht usw. Denn auf diesen Gebieten 
erfordert die Verschiedenartigkeit der einzelnen 
Teile des Staatsgebiets eine so verschiedenartige 
Behandlung, daß, während die Grundzüge der be- 
treffenden Ordnungen von den zentralen Gesetz- 
gebungsordnungen aufgestellt werden können, die 
detaillierten Bestimmungen am besten einer lokalen 
Repräsentanz anvertraut werden. Diese Repräsen- 
tanzen haben dann ebenso wie andere Staats- 
organe mit lokal abgegrenzter Zuständigkeit im 
herkömmlichen staatsrechtlichen Sinn ein Verord- 
nungsrecht, d. h. die unter der höchsten gesetz- 
gebenden Gewalt stehende Befugnis zur Rechts- 
setzung innerhalb und nach Maßgabe der von jener 
erlassenen Rechtsnormen. 
Was das Gebiet der Rechtsausführung ein- 
schließlich der Rechtsprechung anlangt, so hat die 
aus den angeführten Gründen sich ergebende Not- 
wendigkeit der Dezentralisation in der weitaus 
größten Mehrzahl der Fälle zu einer Kompetenz- 
abgrenzung nach Bezirken geführt. Die Bestim- 
mung des § 74 der preußischen Kreisordnung, 
wonach der Kreistag für die Besetzung eines er- 
ledigten Landratsamts geeignete Personen, die 
seit mindestens einem Jahr dem Kreis durch 
Grundbesitz oder Wohnsitz angehören, in Vorschlag 
bringen kann, ist ein Beispiel für das Bestreben, 
eine engere Verbindung der Staatsorgane mit 
Zentralisation usfw. 
  
ihrem Amtsbezirk zu erreichen. In einem ausge- 
dehnten Staatswesen können auch nicht sämtliche 
Rechtsmittelinstanzen zentralistisch gestaltet sein. 
Auch diese sind zum größten Teil lokal abgegrenzte! 
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koordinierte Behörden; nur für die Erledigung 
der allerwichtigsten Fälle pflegt für den ganzen 
Staat eine höchste Instanz zu bestehen. Solche 
typischen Organisationsparallelismen zeigen sich bei 
den verschiedensten Behörden der Staaten. Ahn- 
lich wie in Preußen der Provinzialausschuß zur 
Repartition der Provinzialabgaben auf die Kreise 
und der Kreistag zur Verteilung der diese um- 
fassenden Kreisabgaben auf die Gemeinden zu- 
ständig ist, hat nach französischem Recht der Ge- 
neralrat des Departements die Kompetenz zur 
Repartition der direkten Steuern unter die Arron- 
dissements, deren Räte wiederum diese Steuern 
weiter unter die Gemeinden verteilen. 
Ob die Verteilung der Rechtskompetenzen inner- 
halb eines großen Gemeinwesens mehr zentra- 
listisch oder dezentralistisch gestaltet ist, hängt auch 
von der Möglichkeit einer Expansion der Zentral- 
gewalt ab, die in der älteren Zeit wegen der ge- 
ringen Intensität des gegenseitigen Verkehrs natur- 
gemäß nicht in dem Maß besteht wie bei entwickelten 
Verhältnissen. Wie in den altgermanischen Ge- 
meinwesen die Markgemeinde wegen der engen 
Umgrenzung der Befugnisse des Oberhaupts die 
gesamte Rechtsgemeinschaft stark dezentralisierte, 
tat sie es auch in den späteren Landesfürstentümern 
des deutschen Reichs, da die Tätigkeit des Landes- 
herrn zunächst hauptsächlich nur die Sicherung des 
Territoriums, insbesondere durch die Kriegfüh- 
rung, zum Gegenstand hatte. Erst mit dem Steigen 
der Kultur konnte die Zentralgewalt des Terri- 
toriums die Erledigung weiterer die Allgemein- 
interessen des Staats berührender Aufgaben selber 
in die Hand nehmen, den Wirkungskreis der Ge- 
meinden einschränken und ihre Tätigkeit seiner 
Kontrolle unterwerfen. In Preußen war der Mark- 
stein in dieser Entwicklung die Regierung Fried- 
rich Wilhelms I.; analog gestalteten sich die Ver- 
hältnisse in Frankreich, wo in der Zeit vor 1789 
alle wesentlichen Hoheitsrechte in der Hand des 
absoluten Monarchen vereinigt wurden, und in 
Osterreich, wo in den Jahren 1754/65 die Ge- 
richtsbarkeit, die Polizei, das Volksschulwesen usw. 
kaiserlichen Beamten übertragen wurde. 
Die Anwendung zentralistischer oder dezentra- 
listischer Prinzipien bei der Verteilung der Rechts- 
kompetenzen ist ein wichtiges politisches Problem. 
Mit den spezifischen Zwecken der großen Parteien, 
die sich im Lauf der Zeit in den modernen Kultur- 
staaten herausgebildet haben, steht es jedoch an 
sich in keinem Zusammenhang. Trotzdem ist das 
Prinzip der Dezentralisation nebst dem der Selbst- 
verwaltung und der Rechtskontrolle zu der Zeit, 
als die deutschen Staaten sich aus absoluten in 
konstitutionelle Monarchien verwandelten, eine 
Hauptforderung der konstitutionellen Doktrin und 
ihrer praktischen Vertreter gewesen. Im Gegensatz 
dazu vereinigen sich in Frankreich selbst die radi- 
kalsten Politiker mit den Konservativen in dem 
Streben nach Zentralisation. In diesem Staat 
war in direktem Gegensatz zu der Entwicklung der
	        
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