Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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unverdächtigen Zeugen erbracht. Die Zeugnis- 
pflicht wird als allgemeine öffentlich-rechtliche Ver-c1 
Mlchung stillschweigend vorausgesetzt (CCC Art. 
v In der folgenden Periode bis zum Ende 
des Deutschen Bunds vollzieht sich die Rechtsent- 
wicklung im wesentlichen auf dem Boden der Par- 
tikulargesetzgebung. Der geheime schriftliche In-= 
quisitionsprozeß gelangt zur vollen Ausbildung. 
Erst spät gelingt es, die Folter abzuschaffen; die 
bis in die äußersten Konsequenzen ausgebaute 
gesetzliche Beweistheorie wird sogar bis weit ins 
19. Jahrh. hinein beibehalten. Auch nach Ab- 
schaffung der Folter bleibt das Untersuchungs- 
verfahren immer noch auf Erlangung eines Ge- 
ständnisses des Angeklagten gerichtet. Der Zeugen- 
beweis dringt erst zu größerer Bedeutung vor, als 
mit dem 19. Jahrh. mehr und mehr die Grundsätze 
des französischen Strafprozesses, seit 1848 Ge- 
schworenengerichie und freie Beweiswürdigung, 
Aufnahme in den deutschen Landesgesetzen fanden. 
Eine zweite Rezeption fremden Rechts in Deutsch- 
land! Die Anerkennung der Zeugnispflicht als 
einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung ist allge- 
mein; ihre Erfüllung wird durch Ungehorsams- 
strafen erzwungen. 
II. Das geltende Recht. 1. Gegenstand 
der Zeugnispflicht. Eine allgemeine, auf 
alle behördlichen Angelegenheiten sich erstreckende 
Zeugnispflicht ist reichsrechtlich nicht vorgeschrieben. 
Auch soweit sich die Zeugnispflicht in den verschie- 
denen Reichsgesetzen geregelt findet, ist sie nicht in 
einem einzigen allgemeinen Rechtssatz angeordnet, 
sondern aus zahlreichen Einzelbestimmungen über 
die Ausnahmen von der Zeugnispflicht und die 
Anwendung des Zeugniszwangs abzuleiten. Ge- 
regelt ist die Zeugnispflicht für die vor die 
ordentlichen Gerichte gehörigen Strafsachen, 
bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Konkurs- 
sachen; vgl. Strafprozeßordnung (St. P.O.) vom 
1. Febr. 1877, §8 48/71; Zivilprozeßordnung 
(3.P.O.) vom 30. Jan. 1877, neue Fassung 
vom 17. Mai 1898, 88 373/401; Konkursord- 
nung vom 10. Febr. 1877, neue Fassung vom 
17. Mai 1898, § 75. Eine neue St. P.O. liegt 
im Entwurf gegenwärtig dem Reichstag vor, ist 
aber noch nicht über die Kommissionsberatung 
hinaus gediehen; die Kommissionsanträge (K. A.) 
(§§ 43/69) würden manche Verbesserungen des 
geltenden Rechts bringen; val. Drucksachen des 
Reichstags in der Session 1909/11. Nr 638. 
Auf die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts- 
barkeit finden die Vorschriften der Z. P. O. über 
den Zeugenbeweis entsprechende Anwendung; 
Reichsgesetz über die Angelegenheiten der frei- 
willigen Gerichtsbarkeit vom 17. Mai 1898, 
§8 1, 15, 194. Soweit die bezeichneten Sachen 
vor die Konsulargerichte und Schutzgebietsgerichte 
gehören, gelten für sie auch die angeführten Vor- 
schriften für die ordentlichen Gerichte; vgl. Reichs- 
gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 
Zeugenbeweis ufw. 
  
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1000,81 § 19 und Schutzgebietsgesetz vom 25. Juli 
0, 8 3 
Eine wichtige Streitfrage ist, ob die Zeugnis- 
pflicht in Strafsachen auch gegenüber der Staats- 
nwargs und den Behörden des Po- 
lizei= und Sicherheitsdienstes bestehe 
oder wenigstens durch landesgesetzliche Vorschrift 
begründet werden könne. Beide Fragen sind zu 
verneinen; vgl. Urteil des Reichsgerichts vom 
22. Nov. 1883 (Entscheidung in Strafsachen 9, 
438; Rechtsprechung in Strafsachen 5, 726). 
Nach den K. A. zur neuen St. P. O. § 164 a sollen 
die Bestimmungen über Zeugnisverbot und Zeug- 
nisweigerung, welche für den Richter gelten, auch 
für die Beamten der Staatsanwaltschaft sowie 
der Polizei= und Sicherheitsbehörden gelten; Be- 
eidigung der Zeugen und Anwendung des Zeug- 
niszwangs bliebe aber, wie im geltenden Recht, 
beim Richter. 
Eine selbständige, jedoch inhaltlich in der 
Hauptsache mit der St. P.O. übereinstimmende 
Reglung der Zeugnispflicht enthält die Militär- 
strafgerichtsordnung vom 1. Dez. 1898, §§ 185 
bis 207. Die Vorschriften der St. P. O. über 
Zeugnispflicht (nicht auch über Zeugniszwang!) 
sind auch für anwendbar erklärt worden auf das 
Strafverfahren der Postbehörden wegen Post- 
und Portodefraudationen (Reichsgesetz über das 
Postwesen vom 28. Okt. 1871, § 38), auf die 
Untersuchung von Seeunfällen durch das Seeamt 
und Oberseeamt (Reichsgesetz vom 27. Juli 
1877, §§ 19, 30) und auf das ehrengerichtliche 
Verfahren der Anwaltskammern (Rechtsanwalts- 
ordnung vom 1. Juli 1878, 88 66, 86, 87). 
Ob die Vorschriften der St. P. O. über Zeugnis- 
pflicht auch für Disziplinarstrafverfahren 
gegen Reichsbeamte gelten, ist in der Literatur be- 
stritten, weil in dem Reichsbeamtengesetz vom 
31. März 1873 eine Bestimmung hierüber fehlt 
und diese Lücke auch in der späteren Gesetzgebung 
nicht ausgefüllt wurde; die Praxis wendet jene 
Vorschriften der St. P. O. auch auf Disziplinar- 
sachen an. 
Die Bestimmungen der Z. P.O. über Zeugnis- 
pflicht gelten auch für das Verfahren vor den Ge- 
werbegerichten (Reichsgesetz vom 30. Juni 1901, 
§§# 26, 44) und vor den Kaufmannsgerichten 
(Reichsgesetz vom 6. Juli 1904, 8 16) sowie 
unter Ausschluß der Bestimmungen über den 
Zeugniszwang, auch für das Verfahren in Patent- 
sachen vor dem Patentamt (Patentgesetz vom 
7. April 1891, §§ 25. 26, 30, 32). Die neuesten 
Vorschriften über Zeugnispflicht enthält die 
Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 
für das Versahren zur Feststellung der Leistungen 
aus der Reichsversicherung. Danach kann sich der 
Versicherungsträger um eidliche Vernehmung von 
Zeugen an das Versicherungsamt oder an das 
Amtsgericht wenden; für das Verfahren vor dem 
ersuchten Richter gelten die Vorschriften der 
3.P.O., für das Verfahren vor dem Versiche-
	        
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